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Pfaff

© Deike Diening

Nähmaschinenbauer Pfaff: Heiße Drähte, lose Nähte

Mainz, Regierungsviertel: ein Tisch, ein Telefon – die erste deutsche Hotline für mittelständische Finanzkrisenopfer. Unter ihnen ist auch der Nähmaschinenbauer Pfaff.

Vorbei an Frankfurt mit seinen stoisch gereckten Bankhäusern, vorbei an Rüsselsheim, wo sich hinter dem dunklen Zugfenster Reihen von Autos unter Flutlicht ducken wie bestellt und nicht abgeholt. Von den Banken über die Autoindustrie bis zu Joe Weingarten also, der im Regierungsviertel von Mainz am Ende einer Leitung mit der Nummer 16-2777 sitzt, der ersten Hotline für durch die Finanzkrise unverschuldet in Not geratene Mittelständler.

Der Landesbeamte Joe Weingarten ist ein in jeder Hinsicht stabiler Mensch, seit Jahren mit Wirtschaftsthemen betraut, doch zurzeit vor allem Pionier. Denn im Moment der Krise gewannen die gemütlichen Pfälzer ganz gehörig an Geschwindigkeit, und deshalb haben sie jetzt die erste Finanzkrisen-Koordinierungsstelle Deutschlands. Und Weingarten, noch immer begeistert vom eigenen Zupacken, erzählt, wie ihr Wirtschaftsminister Hendrik Hering die Idee hatte, und wie sie dann innerhalb einer Woche das Konzept entwickelten: Das Land verdoppelte seinen Bürgschaftsrahmen von 400 auf 800 Millionen Euro, und wer innerhalb der letzten drei Monate 25 Prozent Auftragseinbruch zu beklagen hat, darf anrufen. Und weil man unter den historischen Umständen auch mit dem Begriff „Mittelstand“ nicht kleinlich sein wollte, sind vom Ein-Mann-Betrieb bis zum Industriebetrieb mit 300 Angestellten alle angesprochen.

„Man muss sich das mal praktisch vorstellen!“, sagt Weingarten. Vorstellen, wie Weingarten den Auftrag gab zum Druck eines Schildes mit Wappen für die Glastür am Eingang: „Koordinierungsstelle Unternehmenshilfe und Beschäftigungssicherung“. Dann veranlasste er die Haustechnik, eine neue Nummer einzurichten, die auch auf seinen Apparat umzuleiten ist. Und seitdem rufen sie an: Die Malermeister mit zwei Angestellten, die Friseure, Gastronomen, auch die größeren Betriebe, quer durch die Bank, sagt Weingarten. In der ersten Woche waren es mehr als 120 Anrufe, 73 Hilfsanträge sind gestellt, und wenn zwischendurch mal jemand anders etwas von ihm will, sagt er später, hier brennt der Baum.

Es sei ja so, dass zuerst die letzten Glieder in der Kette bedroht sind, die Zulieferer der Zulieferer, zum Beispiel der Betreiber der Werkskantine einer großen Spedition.

Pfälzer exportieren 46 Prozent ihrer Produkte, Pfälzer sind deshalb anfällig für eine Weltwirtschaftskrise.

Es sind „im Kern gesunde Unternehmen“, sagt Weingarten, die jetzt auch durch „irrationale Elemente“ im Markt in Schwierigkeiten geraten sind. Diese Elemente können sie hier ausgleichen. Wenn zum Beispiel ein großes Unternehmen panikartig einen großen Auftrag storniert, von dem jetzt schon abzusehen ist, dass er in sechs Monaten doch wieder fällig werde. Viele große Konzerne haben ein Nachfrageproblem, kein Liquiditätsproblem. Weingarten fürchtet, dass sie das einfach über den Arbeitsmarkt lösen werden. „Wir können die Marktbereinigung nicht verhindern“, sagt er. Aber sie können Bürgschaften und Überbrückungskredite organisieren, die über ihre Investitions- und Strukturbank (ISB) abgewickelt werden.

Von herkömmlichen Mittelstandsprogrammen unterscheiden sie sich durch zweierlei: durch die außergewöhnliche Höhe des übernommenen Risikos und die Geschwindigkeit in der Bearbeitung: Zehn Tage haben sie sich gesetzt für jeden Fall. Normalerweise dauert so etwas Wochen.

Und dann sagt Weingarten „Pfaff“ und „typisch“, ihre Art des Zusammenbruchs. Pfaff soll auch im Rahmen der neuen Hotline geholfen werden. Man spricht es aus und denkt: Da ist grad was entwichen. Man fährt hin und sieht: Die Nähmaschinenfabrik, ein roter Klinkerbau, ein Symbolbetrieb fürs Land, ist mit seinem legendären 80 000 Quadratmeter großen Firmengelände in Kaiserslautern wegen der inzwischen schreckhaft gewordenen Belegschaft nicht zu besichtigen, denn die denkt gleich, jeder Besucher sei der neue Investor, auf den sie in den letzten 15 Jahren immer wieder dringend gewartet haben, aber noch nie so dringend wie jetzt, befindlich in der vorläufigen Insolvenz seit 11. September 2008, im amtsgerichtlich eröffneten Insolvenzverfahren seit vergangenem Freitag.

Stattdessen führt Gerd Peter Richter, der zum Ausgleich von allem Power-Walking mit zwei Stöcken macht und Vorsitzender des Betriebsrates ist, in den Vorführraum der Firma, die nicht nur von der Finanzkrise gebeutelt ist, sondern an der man alle Hoffnungen und Wirrungen der Wirtschaft der letzten Jahre sehen kann. Hinter ihm Nähmaschinen zur industriellen Fertigung. „Das ist die neue Power-Line.“ Und dann sitzt er auf einem eleganten, weißen Ledersofa, selbst inzwischen wie ein Ausstellungsstück mit Seltenheitswert. Seit 1978 im Betrieb, Lehre zum Industriekaufmann, da waren hier noch 6000 Leute, freigestelltes Betriebsratsmitglied seit 1991, um die Interessen der stetig, nun auf 400 Leute geschrumpften Belegschaft zu vertreten.

Sie nennen sich die „Pfaffianer“, und es geht das Gerücht, dass jede Familie in Kaiserslautern einen in ihren Reihen zählt. Es ist hier die Gegend in Deutschland, wo das Reich der Opelianer an das Reich der Pfaffianer stößt, und damit meinen die Angehörigen geschlossene Systeme mit ganz eigenen Gesetzen und Riten, mit Beförderungen, Verabschiedungen und Eigenheiten, denen sie ernstzunehmende Heimatgefühle entgegenbringen. Und wenn man diese Arbeiter alten Schlags erzählen hört, klingt es wie ein schönes Land, der Fantasie entsprungen. Inzwischen gibt es durchaus Stimmen, die sagen, dass diese gütig regierten Arbeitsreiche, denen man dankbar ein Leben lang angehören kann, genauso wenig von dieser Welt sind wie das Reich der Hobbits.

Richter ist gerade 55 Jahre alt geworden und seit 38 Jahren im Betrieb. „Pfälzer wurzeln tief“, sagt er. Das Du unter den Metallern, das Du der Gewerkschafter und das Du im Unternehmen Pfaff, alle Dus zusammen haben sich für ihn zu einer riesigen Familie addiert.

Und trotz allem: Die Erschütterungen der großen Welt erschütterten auch jedes Mal die kleine Welt der Pfaffianer. „In meiner Zeit sind wir acht Mal übernommen worden“, sagt Richter. Sie haben einem Chinesen gehört, Italienern und am Ende den drei Buchstaben GCI, einer Münchner Beteiligungsgesellschaft. Alle kamen mit neuen Konzepten und Ideen, die gerade als der Weisheit letzter Schluss galten. „In dieser Zeit wurde alles falsch gemacht, was falsch zu machen war: Man hat den Markt falsch eingeschätzt, sich auf das Geschäft mit Osteuropa konzentriert und nicht in die Fertigung investiert.“

Als Ende der 80er die Mauer fiel, brach nämlich Pfaffs Hauptmarkt in der Sowjetunion ein – hilflos sahen sie zu, wie die Textilindustrie erst in die Türkei wanderte, dann nach Marokko und Portugal.

Und gingen dann nicht alle nach China? Jetzt auch Pfaff: Ein eigenes Werk auf 10 000 Quadratmetern in Taicang wurde eingeweiht, das günstig produzierte. Längst war da das ausgeblutete Werk in Kaiserslautern, das doch weiterhin die Hochtechnologie industrieller Nähmaschinen entwickeln sollte, mit seinen Dutzenden Gebäuden zu groß und ineffizient. Die Arbeiter verloren Zeit, indem sie hauptsächlich das Material von einem Ort zum anderen schafften, von der Gießerei zur Stanzerei, zur Gussbearbeitung, zur Stahlbearbeitung, zur Fertigung. Der Grund gehörte ihnen auch längst nicht mehr, sie hatten ihn verkauft und mieteten ihn zurück, wie man das jetzt so machte.

In einem weiteren Kraftakt planten sie eine neue Werkshalle im Industriegebiet. Doch kurz bevor sie in die fertige, neu gebaute Halle gezogen wären, wo alles effizienter geworden wäre, war plötzlich die Insolvenz da. „Ausgerechnet in dem Moment hatte die Gesellschaft kein Geld mehr“, sagt Richter. Es war Finanzkrise, GCI brauchte selber Geld, denn sie gehörten zu 29 Prozent der britischen Private-Equity-Gesellschaft ACP Capital, die wiederum größtenteils dem amerikanischen Hedgefonds QVT gehört, der sein Management ausgetauscht hatte. Aus New York floss kein Geld mehr, und im Industriegebiet Kaiserslautern gähnen jetzt ein paar Parkplätze und eine nagelneue, leere Werkshalle.

Als wäre es gestern, erinnert sich Richter an die legendäre Betriebsräteversammlung Ende November, in der das Thema „Lohn“ von der Krise verdrängt wurde, und in der der Wirtschaftsminister Hering den Anwesenden geschlagene drei Mal einschärfte, sich vor einem Anruf bei Hotline, der neuen Koordinationsstelle, nicht zu scheuen. Traut euch, auch schon, wenn ihr das erste Knirschen bemerkt. Es war der aktuellste Hoffnungsschimmer in einer Serie schlechter Nachrichten. Richter stand gleich auf und ging ans Saalmikrofon und stellte die Lage dar. Extra anrufen brauchte er da auch nicht mehr.

Das alles, Herr Weingarten, die Kredite und Bürgschaften funktionieren ja nur unter der Prämisse, dass die Lage sich wieder entspannt, oder?

Ja, sagt der Beamte des Landes Rheinland-Pfalz, 46. Wir gehen davon aus, dass sich die Krise wieder beruhigt. Frühestens 2010. Das erste Jahr ist deshalb tilgungsfrei. Ohnehin hält er ihre Tätigkeit hier bisher nur für ein Warmlaufen, ein Einüben der Abläufe für das erste Quartal 2009, wenn sie mit viel größeren Einbrüchen rechnen.

Und dann empört er sich noch etwas über die große Bereitschaft im Land, den Untergang zu umarmen. – Wobei die allumfassende Düsternis der Erwartungen ja nicht an der objektiven Lage liegt, sagt Weingarten, sondern am Vergleich. Der Tatsache nämlich, dass man alle Quartale zum Vorquartal, und die Monate zum gleichen Monat des Vormonats, Jahre zu ihren Vorjahren in Beziehung setzt: Das Bruttoinlandsprodukt von Rheinland-Pfalz stieg im zweiten Quartal 2008 um 2,2 Prozent. „Der Fall ist jetzt auch deshalb so groß, weil für viele das zweite Quartal 2008 das beste Quartal ihrer Unternehmensgeschichte war.“

Weingarten sitzt im Auge der Krise und schaut ihr zu wie einem launenhaften Sensenmann, der einiges niedermäht, anderes aber verschont. Man müsse in der allgemeinen Schwarzmalerei genau hingucken und sehen, dass die Baumaschinen schlimmer betroffen sind als die Landwirtschaftsmaschinen. Der Glashersteller Schott zum Beispiel werde in den nächsten Jahren 300 Arbeitsplätze schaffen.

Als Joe Weingarten vor kurzem durch die Stadt Mainz lief, kaufte er sich im Vorbeigehen eine Ludwig-Erhard-Biografie. Um noch einmal zu studieren, „welche wirtschaftlichen Maßnahmen getragen haben“. Das könne man dieser Tage wieder lesen. Auf dem Buch prangt der Stempel „Mängelexemplar“.

Deike Diening[Kaiserslautern, Mainz]

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