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Wirtschaft: Nahaufnahmen aus dem wilden Osten

BERLIN .Wie die frühere DDR neun Jahre nach ihrem Zusammenbruch umschreiben?

BERLIN .Wie die frühere DDR neun Jahre nach ihrem Zusammenbruch umschreiben? Als "Ex-DDR", als die "fünf neuen Bundesländer", als "Ostdeutschland", oder als "Neufünfland" gar, wie Spötter mit spitzer Zunge schon kurz nach dem Wiedererstehen der Länder Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern feststellten? Allenfalls als Umschreibung eines politischen Vorgaben und Zuordnungen unterliegenden Gebietes mag so ein Sammelbegriff seine Berechtigung haben - als Sprach-Krücke in der politischen und öffentlichen Debatte.Hier paßt auch das verbale Monstrum "Beitrittsgebiet", weil es präzise nicht nur die betreffende Region umschreibt, sondern auch einen hochkomplexen politischen Prozeß auf den Punkt bringt.

Bei der Analyse wirtschaftlicher Prozesse hingegen hilft auch diese sprachliche Abgrenzung nicht viel.Angesichts einer zunehmenden wirtschaftlichen Differenzierung wird sie vielmehr immer hinderlicher.Denn jeder halbwegs Interessierte weiß zwar, daß die wirtschaftliche Entwicklung im Osten der des Westens hinterherhinkt, daß die Arbeitslosigkeit größer, die Produktivität geringer und die Lohnstückkosten höher sind.

Aber daß das Land Brandenburg 1997 mit 2,9 Prozent den bundesweit höchsten Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt vorzuweisen hatte, das ist meist nicht bekannt.Auch daß sich hinter der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 17,2 Prozent im Juni regional höchst unterschiedliche Beschäftigungslagen verbergen, wird meist übersehen.So lag die Arbeitslosenquote in Sangershausen mit 22 Prozent an der ostdeutschen Spitze, die im Arbeitsamtsbezirk Potsdam mit 13,2 Prozent jedoch weit unter dem Durchschnitt - auch mancher westdeutscher Arbeitsamtsbezirke.

Und daß die Produktivität unterschiedlich ausgeprägt ist, ist spätestens bekannt, seitdem General Motors sein Opel-Werk in Eisenach zum Vorbild im weltweiten Konzern-Verbund erklärt hat.Da wundert nicht, daß die IG Metall aus der wachsenden Zahl einzelner Unternehmen, in denen die westdeutsche Produktivität erreicht oder überschritten wird, den Schluß herleitet, daß die Firmen damit auch die höheren Tarifleistungen erbringen sollten, wie sie im Westen üblich sind.

Die wenigen Beispiele zeigen, daß der Blick auf das Ganze wichtige Sachverhalte verschleiert, Entwicklungen überdeckt und die Sicht auf die bunte Vielfalt regionaler Entwicklungen verstellt.Sie belegen aber auch, daß regionale Entwicklungen nicht einfach "hochgerechnet" werden dürfen.

Der Bund und die ostdeutschen Länder haben in ihrer Regionalpolitik auf diese differenzierte Entwicklung bereits reagiert.Zwar gelten alle neuen Bundesländer und Berlin als so stark unterentwickelt, daß sie auch für den Zeitraum 1998 bis 2001 vollständig in die "Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" (GA) aufgenommen wurden und die Förderung prinzipiell fortgeschrieben wurde.Andererseits werden die Fördersätze seit 1997 differenziert.Investoren in stärker entwickelten Regionen, gemessen an der Quote der Unterbeschäftigung, Einkommen und Infrastrukturausbau, erhalten seither niedrigere Förderhöchstsätze.Das betrifft neben Berlin die Arbeitsmarktregionen Dresden, Leipzig, Jena, Erfurt, Weimar, Schwerin und Halle.In diesen relativ strukturstarken Regionen, in denen immerhin 40 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung leben, beträgt die Förderung maximal 43 statt 50 Prozent für kleinere und mittlere Unternehmen und 28 statt 35 Prozent für größere Firmen.

Mit Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern versuchen zudem zwei Länder einen internen Ausgleich zwischen schwachen und starken Regionen durch unterschiedliche Fördersätze zu bewirken.In Brandenburg wurden dagegen die Kreise so geschnitten, daß möglichst viele an den "Speckgürtel" um Berlin heranragen und damit Wirtschaftskraft von der Metropole saugen können.Das Konzept der "dezentralen Konzentration" soll ferner dafür sorgen, daß auch strukturschwache Bereiche zumindest ein starkes Oberzentrum aufweisen.

Innerhalb der Länder sind starke Abweichungen zwischen urbanen Entwicklungszentren, ländlichen Räumen oder grenznahen Regionen zu registrieren.Dabei folgen die Entwicklungsmuster vielfach historisch gewachsenen Strukturen: In den seit über 100 Jahren industriell oder mittelständisch geprägten Regionen Sachsens und Thüringens ist die Wirtschaftskraft auch heute erheblich stärker ausgeprägt als etwa im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern.

"Bereits die Wirtschaftsstruktur der früheren DDR war durch ein deutliches Nord- Süd-Gefälle gekennzeichnet, das historisch gewachsen war und unter planwirtschaftlichen Verhältnissen mehr oder weniger fortgeschrieben worden ist", stellen die Kommunal- und Regionalforscher des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) fest.Doch der Umbruch der Wirtschaftstruktur wirkt sich auf viele Standorte immer noch gravierend aus.Rostock, das zu DDR-Zeiten das "Tor zur Welt" war, muß sich in Konkurrenz zu Hamburg bescheidenere Ziele setzen.Die maritime Wirtschaft an der Ostsee ist drastisch geschrumpft.Ähnlich ist die Lage im Chemie-Zentrum Halle/Bitterfeld, wo zwar nach Milliarden-Investitionen wieder kräftig produziert wird, aber nur ein Bruchteil der früheren Beschäftigten wieder Arbeit gefunden hat.Weitgehend verschwunden ist der Maschinenbau in Magdeburg.Dagegen blüht die Automobilindustrie in Thüringen und Sachsen auf.Kämpfen Städte und Regionen einerseits mit der Überwindung der Folgen von 40jähriger sozialistischer Wirtschaft, so nutzen andere die dabei entstandenen Strukturen: Zum Beispiel Schwedt mit der Raffinerie am Ende der Erdölpipeline aus Rußland oder Eisenhüttenstadt mit dem EKO-Stahlwerk nahe der polnischen Grenze.

Die Analyse der Mittelflüsse aus der GA für die Jahre 1994/95 belegt, daß sich Investitionen von Unternehmen nun auch anhand dieser historisch gewachsenen regionalen Wirtschaftsstrukturen entwickeln.Sie zeigt, daß die Umlandregionen großer Ballungsräume wie Berlin, West- und Ost-Sachsen, von einem höheren Förderniveau profitieren.Das Umland-Stadt-Gefälle zeigt sich darüber hinaus auch bei "Kernstädten in verstädterten Regionen", wie Cottbus, Zwickau, Halle, Magdeburg, Erfurt, Gera und Jena.Als Gründe dafür führen die IWH-Forscher ein qualitativ breit gefächertes Arbeitskräfteangebot in den angrenzenden Regionen an, verweisen auf Kostenvorteile durch die Konzentration von Zulieferern, Abnehmern, Dienstleistern und Kunden sowie auf eine bessere Infrastrukturausstattung.Zudem seien in den ersten Aufbaujahren nach 1990 Industrie- und Gewerbeflächen im Umland der Städte preisgünstiger verfügbar gewesen.Auch sei die "grüne Wiese" als Bauplatz schneller verfügbar gewesen, da sie eben nicht mit ungeklärten Eigentumsansprüchen, laufenden Privatisierungen oder Planungs- und Genehmigungsverfahren belastet war.

Ländliche Kreise wiesen immer eine überproportional höhere Förderung auf, wenn sie wie in Wismar oder Suhl, Nordhausen, Bitterfeld, im Wartburgkreis oder Sonneberg einen industriellen Kern besaßen.Ohne den sackte das Fördervolumen schnell ab.Auch hier zeigt sich das bekannte regionale Verteilungsmuster: Die Mehrzahl der zwölf ländlichen Kreise mit unterdurchschnittlich geförderten Pro-Kopf-Investitionen liegt im ostdeutschen Armenhaus: In Mecklenburg-Vorpommern, im nördlichen Sachsen-Anhalt und im Nordosten Brandenburgs.

ANDREAS MIHM (HB)

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