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Wirtschaft: Neue Chancen für Zusammenarbeit mit den Baltischen Staaten

Diepgen besucht aufstrebende Wirtschaftsregion / Beachtliche konjunkturelle Entwicklung in Estland, Lettland und Litauen / Handel nutzt Brückenfunktion zum russischen und skandinavischen MarktVON GEORGE TURNER Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen besucht in der Woche nach Pfingsten die Baltischen Staaten.In seiner Begleitung ist der frühere Berliner Wissenschaftssenator George Turner.

Diepgen besucht aufstrebende Wirtschaftsregion / Beachtliche konjunkturelle Entwicklung in Estland, Lettland und Litauen / Handel nutzt Brückenfunktion zum russischen und skandinavischen MarktVON GEORGE TURNER

Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen besucht in der Woche nach Pfingsten die Baltischen Staaten.In seiner Begleitung ist der frühere Berliner Wissenschaftssenator George Turner.Seit der Wende hat Turner vielfältige Kontakte zu Institutionen und Personen in den Baltischen Staaten angeregt und aufgebaut.Er hat eine Einführung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht verfaßt, die in synoptischer Form (deutsch und der jeweiligen Landessprache) in allen drei Ländern verwendet wird.Ferner ist er Mitinitiator des von der Handelsblatt-Gruppe veranstalteten Hanse-Kollegs.Die Baltischen Staaten werden oft ­ nicht zuletzt wegen der historisch nicht korrekten Bezeichnung Baltikum ­ zu undifferenziert, zu sehr als Einheit gesehen.Sie haben, abgesehen von den Problemen mit Rußland in Vergangenheit und Gegenwart, weniger gemeinsam als man denkt.Das Bemühen um Kooperation steht zurück hinter der Suche nach der eigenen Identität. Industrialisierungsgrad Zum Zeitpunkt der Anerkennung der Unabhängigkeit im September 1991 nahmen die baltischen Staaten innerhalb der Sowjetunion bezüglich der Wirtschaftsdaten eine hervorragende Stellung ein.Wenn der Industriesektor heute mit seinem Anteil am Bruttoinlandprodukt unter seinen Möglichkeiten bleibt, ist dies die Folge der Umstrukturierung.Hier können künftig, bei Ausnutzung der Gegebenheiten, höhere Produktionsanteile erwartet werden.Estland wird für 1997 mit rund 4 Prozent voraussichtlich erneut eine hohe Wachstumsrate aufweisen; die Inflationsrate wird nach bisherigen Einschätzungen bei rund 15 Prozent liegen.Die Währung ist fest an die D-Mark gebunden.Der Transformationsprozeß vom Plan zum Markt ist in Estland weit vorangeschritten.Die estnische Wirtschaft ist auf einem guten Weg. Lettlands Wirtschaftswachstum wird 1997 ebenfalls circa 4,5 Prozent betragen, die Inflationsrate auf etwa 12 Prozent zurückgehen.Die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Gesundung sind gegeben. Auch für Litauen werden für das laufende Jahr 4 Prozent Wachstumsrate prognostiziert.Die Inflationsrate liegt noch bei 20 Prozent.Die Bindung der Währung an den US-Dollar bleibt bestehen.Das Klima für Investitionen ist durch eine Steuerreform verbessert worden, auch die Privatisierung macht seit der letzten Wahl Fortschritte. Infrastruktur Die Baltischen Staaten sind seit alters her ein Durchgangsgebiet nach Skandinavien und Rußland.Das Verkehrswesen ist in allen drei Ländern zwar entwickelt, wobei aber ein Renovierungsbedarf augenfällig ist.Durch ein weit ausgebautes Eisenbahnnetz und ein relativ dichtes Netz an befestigten Straßen ist im Grunde eine zufriedenstellende Infrastruktur gegeben.Jedes Land hat eine eigene Fluglinie; die Verbindungen nach Deutschland sind ausreichend; in die ehemalige Sowjetunion gibt es zahlreiche Verbindungen.Die Häfen von Tallinn, Ventspils und Riga sowie Klaipeda/Memel sind leistungsfähig.Im übrigen erfolgen bereits zum Teil weitreichende Modernisierungen mit Mitteln der Europäischen Union.Der Blick auf die Landkarte zeigt, daß diese Staaten den Übergang von Mittel- zu Osteuropa bilden: Sie fühlen sich als zur Mitte Europas gehörig. Ausbildungsstand Im Gebiet der Sowjetunion war der Ausbildungsstand in den Baltischen Staaten relativ hoch.Das Vorhandensein von Universitäten und Hochschulen, zum Teil mit sehr guten Kontakten nach Europa und Nordamerika geben begründete Hoffnung für eine qualifizierte Ausbildung.Die große Tradition der Universität Dorpat (Tartu) und die Tatsache, daß Vilnius die älteste Hochschule in den in Rede stehenden Ländern hat (1579 gegründet), sind wichtige Anknüpfungspunkte. Investitionen und Handel Privatisierung und Abbau der Monopolstrukturen sowie die Schaffung einer neuen Wirtschaftsverfassung haben die Staaten selbst als wichtigste Voraussetzung für den Zufluß ausländischen Kapitals erkannt.Die sogenannten Direktinvestitionen in den Jahren 1995/96 sind ein Spiegelbild der Entwicklung, wobei zu berücksichtigen ist, daß einzelne große Investitionsprojekte das Bild schnell verändern können.In Estland haben die deutschen Direktinvestitionen mit 1,8 Prozent im Jahr 1996 nicht das gewünschte Niveau erreicht.Schweden und Finnland führen mit 34,5 Prozent beziehungsweise 24,2 Prozent.In Lettland nimmt Deutschland mit 6 Prozent hinter Dänemark, Rußland und den USA den 4.Rang ein.In Litauen erreichte Deutschland 1995 mit 20 Prozent Rang 2, hinter den USA mit rund 34 Prozent.Bei der Statistik ist aber zu berücksichtigen, daß unter Umständen ausländische Unternehmen über ihre in Skandinavien tätigen Töchter in den Baltischen Staaten aktiv sind und damit die Übersicht entsprechend beeinflussen.Die Baltischen Staaten stellen zwar einen relativ kleinen Markt dar, der aber insbesonders für die deutsche mittelständische Industrie aufgrund seiner Nähe und Überschaubarkeit durchaus Chancen bietet.In der Export-Import-Bilanz führen bei Estland Finnland (18 Prozent), Rußland (16 Prozent) und Schweden (11 Prozent) vor Lettland (8 Prozent) und Deutschland (6,9 Prozent) als Abnehmerländer.Für Lettland ist Deutschland mit jeweils 14 Prozent der wichtigste Abnehmer und Lieferant innerhalb der EU.Brückenfunktion zum russischen Markt Als Sprungbrett zum russischen Markt kann in erster Linie die enge Verflechtung mit dem alten Staatswirtschaftsverband der Sowjetunion betrachtet werden.Fast 90 Prozent der Betriebe waren mehr oder weniger mit der übrigen Sowjetunion verzahnt.Das hat sich ­ aus den verschiedensten Anlässen ­ grundsätzlich geändert. Estland ist den Weg der wirtschaftlichen Entwicklung am zielstrebigsten gegangen.Auffällig ist ein Selbstbewußtsein, durchaus auch Stolz auf die eigene Leistung des kleinen Landes, das gerade 1,6 Millionen Einwohner hat.Unter anderem kommt das zum Ausdruck in der Wertschätzung der eigenen Währung.D-Mark und auch Dollar sind keine Verlockung, der man erliegt.Fremdes Geld muß gewechselt werden, bevor Waren oder Leistungen gekauft werden können.Auf den ersten Blick hätte man Lettland (2,7 Millionen) eine zügigere Entwicklung zugetraut.Die ansprechende Hauptstadt Riga mit ihrer Geschichte und den vielen Bezugspunkten zu Deutschland machen womöglich in der Erwartung voreingenommen.Litauen hat als das bevölkerungsreichste Land der drei (3,8 Millionen) manche Probleme nur in geminderter Form.Da ist in erster Linie der relativ geringe russische Anteil an der Gesamtbevölkerung zu nennen (9 Prozent, Estland 30 Prozent, Lettland 33,5 Prozent).Hier gibt es allerdings eine andere Sorge: das Land bleibt umklammert; im nördlichen Ostpreußen sind, Schätzungen zufolge, mindestens 200 000 Angehörige der früheren Sowjet-Armee stationiert. Auffällig ist in allen drei Staaten die Hoffnung auf Kooperation mit Deutschland.Die Bewohner jener Staaten haben erkannt, wie schwierig ihr weiterer Weg in die Freiheit und zu erträglichen Lebensbedingungen ist.Sie fühlen sich Europa zugehörig, und es wäre ein politischer Fehler, dies nicht zu erkennen und anzuerkennen.Es hieße, auch das Potential wirtschaftlich ungenutzt zu lassen, das vor allem im Verhältnis zu Rußland die oft beschworene Brückenfunktion bilden kann.Diese Rolle haben die Baltischen Staaten noch nicht angenommen.Das zeigt sich auch zum Beispiel im drastischen Rückgang des Interesses an der russischen Sprache.Sicher eine Entwicklung, die Chancen nimmt.Vereinfacht gesagt, kann diese darin bestehen, daß das Know-how aus dem Westen kommt, die Rohstoffe aus Rußland und die Verarbeitung in den Baltischen Staaten erfolgt.Der Markt für die fertigen Produkte ist dann wieder Rußland.Unter solchen Aspekten sind die Baltischen Staaten ein geeigneter Standort sowohl für Industrie als auch für Handel. In diesem Jahr findet das 9.Hanse-Kolleg in der Zeit vom 28.bis zum 30.Mai in Tallin/Estland statt unter dem Thema "Handeln und Investieren in Estland." Informationen zu dieser Wirtschaftskonferenz sind erhältlich unter 030/27871822 (Veranstaltungsforum der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck).

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