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Wirtschaft: Nordisches Wunder

Mit Spitzenforschung treibt Finnland seine Wirtschaft an – und hat trotzdem Angst vor der Zukunft

Vom politischen und wirtschaftlichen Trauerspiel, das derzeit in so vielen Teilen Europas gegeben wird, ist in Finnland nichts zu spüren. Dass der Optimismus der Finnen in krassem Gegensatz zur Schwermut des alten Europa steht, ist kein Wunder: Anders als in den großen EU-Ländern läuft es in dem nördlichen Außenposten der Gemeinschaft blendend – ökonomisch und psychologisch. „Das finnische Modell könnte auch Wege aus der europäischen Krise liefern“, sagt Pekka Himanen, ein 31-jähriger Philosoph und Co-Autor eines Buches über Finnlands Erfolgskurs.

Aber auch in Finnland gibt es nicht auf alles eine Antwort. Wie in den anderen Euro-Ländern reicht die Zahl der Geburten auf Dauer nicht aus, um die versprochenen Sozialleistungen für die immer größere Zahl der Älteren aufrechtzuerhalten. Und den neuen Arbeitsplätzen in der Hightech-Industrie standen große Stellenverluste infolge der Schließung älterer Produktionsanlagen gegenüber. Die Arbeitslosenquote bleibt mit zehn Prozent damit recht hoch. Trotzdem machen die Finnen das Beste aus ihrer kleinen Bevölkerung von 5,2 Millionen.

Ihre Erfolge beruhen auf Experimentierfreudigkeit und Innovation. Vor 15 Jahren rutschte das Land in eine tiefe Rezession, nachdem der Zusammenbruch der Sowjetunion zum Verlust des wichtigsten Handelspartners führte. Die Arbeitslosigkeit schoss auf 20 Prozent. Doch nach schmerzhaften Anpassungen ging die Wirtschaft gestärkt aus der Krise hervor. Heute ist sie wettbewerbsfähiger als jede andere, so das Weltwirtschaftsforum in Davos. „Europa ist wie ein einstiger Spitzensportler, der seine Form verloren hat“, sagt Himanen. „Doch anstatt mit dem Training anzufangen, werden Strategiepläne aufgestellt“, so der Autor. „Das finnische Erfolgsmodell beruht dagegen auf Taten, nicht auf Worten.“

Eine Schlüsselrolle haben dabei Finnlands Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Kaum eine Statistik zeigt besser, was das einstige Agrarland zum Hightech-Mekka machte, das inzwischen die Produktivität der USA in vielen Bereichen übertrifft: Die Finnen gaben im letzten Jahr 3,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus. Einen höheren Anteil hat mit 4,2 Prozent nur Schweden, während sich die USA mit 2,6 Prozent und die EU-Staaten im Durchschnitt mit weniger als zwei Prozent begnügen.

Die Forschungsausgaben sind auch Symbol für die Entschlossenheit der Finnen, ihr dünn besiedeltes Land weiterhin an der Spitze der globalisierten Welt zu halten. Wie bei vielen anderen Entscheidungen gab es einen breiten politischen Konsens über die Förderung der Wissenschaften und der Entwicklung kommerzieller Anwendungen. Finnland erhöhte die Staatsausgaben in diesen Bereichen während der 90er Jahre selbst dann noch, als alle anderen Staatskosten eingefroren oder zurückgefahren wurden.

Mit der Verteilung der Mittel sind drei verschiedene Institutionen befasst. Eine davon ist Tekes, eine nationale Agentur für Technologie, die sowohl Grundlagen- als auch angewandte Forschung finanziert. In diesem Jahr wird Tekes rund 445 Millionen Euro verteilen, sagt Veli-Pekka Saarnivaara, der Präsident der Einrichtung. Davon gehen 40 Prozent an Universitäten und andere Forschungsinstitute und 60 Prozent an die Wirtschaft.

Obwohl von der Regierung finanziert, ist Tekes eine eigenständige Einrichtung. Diese „ziemlich einmalige“ Stellung, wie Saarnivaara es nennt, macht eine weitere Besonderheit deutlich: Finnen vertrauen ihrer Regierung. Viele Besucher aus anderen Industriestaaten bewundern die Agentur, sagt der Tekes-Chef, weil die Einrichtung in ihren Heimatländern „wegen der Korruption nicht denkbar wäre“.

Seit 20 Jahren arbeitet Tekes mit privaten Unternehmen zusammen und hilft ihnen bei der Verwendung ihrer Forschungs-Etats. Dabei werden auch Universitäten und andere Forschungsorganisationen ermuntert, zusammen mit der Wirtschaft nach neuen Märkten und Produkten zu suchen. „Wir helfen bei der Aufstellung von Forschungs- und Entwicklungsprojekten, die wir dann finanzieren“, sagt Saarnivaara. Rund ein Drittel der geförderten Projekte schlügen zwar fehl. Doch diese Fehlerquote ist Saarnivaara noch nicht hoch genug – gern würde er größere Risiken eingehen.

Sitra ist ein weiterer finnischer Nationalfonds für Forschung und Entwicklung. Er kommt zwar nur mit einem Zehntel des Tekes- Budgets aus. Sein Einfluss auf die finnische Wirtschaft ist dennoch gewaltig. Sitra versorgt Unternehmen mit Risikokapital. Finanziert wird Sitra aus den Gewinnen, die seine Beteiligungen abwerfen. Die Organisation hält Anteile an Start-up-Projekten und etablierten Unternehmen im Wert von 750 Millionen Dollar. Ein Großteil des Kapitals stammt aus einem Nokia-Aktienpaket, das die Regierung erwarb, als die Mobilfunksparte des heutigen Telekommunikationskonzerns noch ganz am Anfang war. „Nokia war ein Wunder“, sagt Sitra-Chef Esko Aho, der während der Krisenjahre der frühen Neunziger Premierminister des Landes war. Heute ist Nokia der weltgrößte Hersteller von Mobiltelefonen und stützt mit seinem 35-Milliarden-Dollar-Umsatz die finnische Wirtschaft wie kein anderes Unternehmen.

Eine dritte Quelle für Forschungsfinanzen ist die finnische Wissenschaftsakademie, die jährlich 240 Millionen Dollar für die Grundlagenforschung bereitstellt. Hier machen öffentliche Mittel nur ein Drittel der Gesamtausgaben aus – den Rest steuern die Unternehmen bei. Denn in einem Punkt sind sich hochrangige Vertreter der finnischen Wirtschaft einig: Nur wenn Finnland intellektuell und technologisch führend bleibt, lässt sich der Status als eine der führenden Industrienationen bewahren.

Für Sitra-Chef Esko Aho kommt es vor allem auf die weitere Bereitschaft der Finnen zum Wandel an: „Die Leute sind sehr zufrieden mit dem Erreichten“, warnt Aho. „Wenn wir nicht aufwachen, kann es uns ergehen wie Deutschland oder Frankreich. Es wird Zeit, unsere Strategie als Nation zu überdenken.“

Robert G. Kaiser

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