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José Ángel Gurría. „Die Bürger müssen in Sachen Finanzen besser ausgebildet werden.“

© REUTERS

OECD-Generalsekträr Gurria: „Die Deutschen waren mutig“

José Ángel Gurría, Generalsekretär der OECD, über Reformen und Krisen, lockere Geldpolitik und unfaire Nicht-Besteuerung.

Herr Gurría, die Daten über Europas Wirtschaft werden immer schlechter. Wird die Krise länger dauern als angenommen?

Wir glauben, dass das Wachstum 2013 schwach bleiben wird und die Erholung erst 2014 kommt. Natürlich wird es nicht am 1. Januar schlagartig einen Aufschwung geben. Es wird eine leichte Verbesserung gegen Ende des Jahres kommen, mit positivem Elan für 2014. Deutschland geht es besser als vielen seiner europäischen Handelspartner. Aber auch die deutschen Zahlen sehen nicht gut aus. Ob Sie 0,2 Prozent im Minus oder im Plus liegen, macht ja keinen großen Unterschied.

Noch nie waren in Europa so viele Menschen arbeitslos wie heute.

Millionen Bürger, die derzeit keine Perspektive haben, brauchen dringend eine. Noch immer gehen im Euro-Raum mehr Jobs verloren, als dass neue entstehen. In einigen Ländern ist jeder zweite Jugendliche ohne Job, und die Langzeitarbeitslosigkeit steigt unkontrolliert. Das ist erschreckend. Zugleich fehlen oft Fachkräfte – eine paradoxe Situation. Das zeigt, dass es im Bildungssystem massive Probleme gibt.

Sie dürften sich kaum rasch abstellen lassen.

Für den Übergang brauchen wir Beschäftigungs- und Qualifikationsinitiativen, die dazu führen, dass Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zusammenkommen. Dann muss es um die Strukturen gehen. Viele der Krisen-Länder könnten von Deutschland lernen: bei der Ausbildung, beim lebenslangen Lernen und beim Umgang zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, hier sind die Deutschen besonders gut.

Tun die Krisenstaaten genug, um wieder wettbewerbsfähig zu werden?

Das Reformtempo ist unterschiedlich. Spanien und Italien sind bereits seit zwei, drei Jahren unterwegs, nachdem der Markt mit steigenden Anleihezinsen klare Signale gegeben hat, dass es Zeit ist für einen Kurswechsel. Frankreich hat gerade eine Arbeitsmarktreform verabschiedet. Das hätte Paris allerdings schon viel früher tun können.

In Frankreich und Deutschland gibt es unterschiedliche Auffassungen über den Weg aus der Krise.

Reformen sollten zum normalen Leben dazugehören. Das war in den vergangenen Jahren nicht der Fall. Man sollte nicht sagen, wir haben ein paar Dinge verändert, jetzt lehnen wir uns wieder zurück. Das gilt für jedes Land. Es ist nicht wie in der Bibel, wo es heißt, am siebten Tage sollst du ruhen. Denn Reformen sind selten beim ersten Versuch perfekt, oft muss man nachbessern.

Droht der Welt ein Währungskrieg?

Braucht Frankreich eine Art Agenda 2010?

Die Deutschen haben mutige Entscheidungen getroffen. Als die Krise kam, waren sie vorbereitet. Nicht jeder Staat kann oder will es so machen. Aber es gibt einige Dinge, die Frankreich von seinem Nachbar lernen kann. Reformen sind nötig, weil sich die Welt um uns herum verändert hat. Wer sich dem nicht anpasst, fährt vor die Wand.

Japan wächst wieder überraschend stark, vor allem wegen seines schwachen Yen. Droht der Welt ein Währungskrieg?

Der Wechselkurs heute ist wieder auf dem gleichen Stand wie vor einem Jahr, das darf man nicht vergessen. Der Yen galt lange als sicherer Hafen, er zog in der Euro-Krise Kapital an und wertete auf. Jetzt ist er auf den alten Stand gesunken. In vielen Ländern gibt es die Kombination von lockerer Geldpolitik und harter Fiskalpolitik. Japan macht es anders und kombiniert eine lockere Geldpolitik mit einer lockeren Fiskalpolitik. Das ist einen Versuch wert.

Ein riskanter Kurs.

Japan hat spezielle Probleme: Die Verschuldung liegt bei 220 Prozent der Wirtschaftsleistung, zugleich altert die Bevölkerung rasch, die Zahl der Rentner steigt. Japan muss also unbedingt Wachstum schaffen, um auf diese Weise sein Defizit zu drücken und die Schulden abzubauen. Es ist ein spannender Versuch. Allerdings ist der Einsatz sehr hoch. Es steht viel auf dem Spiel. Japan ist schon zu lange in der Werkstatt.

Auch andere Länder überschwemmen die Welt mit Geld.

Die USA, Großbritannien oder eben Japan nutzen alle verfügbaren Instrumente, um wieder auf einen Wachstumspfad zu kommen. Davon wird jeder etwas haben. Wenn diese Länder die Wende schaffen, werden sie Waren in aller Welt bestellen, dann geht es wieder bergauf. Spanien, Italien, Frankreich oder die Niederlande dagegen können ihre Währung nicht einfach abwerten. Sie müssen ein gutes Stück härter arbeiten an den Reallöhnen, an der Produktivität, an der Wettbewerbsfähigkeit, am Strukturwandel.

Sie empfehlen auch der Europäischen Zentralbank, ihre Geldpolitik zu lockern?

Die Zinsen sind bereits sehr niedrig. Zugleich bedeutet das wirtschaftliche Gefälle in Europa, dass die Anforderungen an die Geldpolitik derzeit sehr unterschiedlich sind. Sollte sich die Lage aber wider Erwarten nicht bessern, muss auch die EZB bereit sein, eine noch aktivere Rolle zu spielen.

Wie groß ist die Gefahr neuer Blasen?

Wie groß ist die Gefahr neuer Blasen an den Kapitalmärkten als Folge der lockeren Geldpolitik?

Sie ist durchaus vorhanden. Wenn Blasen platzen, wird es ungemütlich, darunter müssten viele Menschen leiden. Blasen destabilisieren das System. Also sollten wir versuchen, sie zu verhindern. Allerdings werden die Zinsen in der nächsten Zeit wohl niedrig bleiben, das kann zu Verwerfungen führen. Billiges Geld verführt Länder, Konzerne wie Verbraucher dazu, sich zu stark zu verschulden.

Was raten Sie?
Die Bürger müssen in Sachen Finanzen besser ausgebildet werden. Dann können sie besser abschätzen, was passiert, wenn die Zentralbanken irgendwann aus der lockeren Geldpolitik aussteigen und die Zinsen steigen. Anleihe-Renditen werden sinken, Hypotheken werden sich verteuern. Selbst ohne Blasen ist also die aggressive Geldpolitik nicht ungefährlich. Schließlich blähen die Zentralbanken ihre Bilanzen deutlich auf, das kann nicht auf ewig so weitergehen.

Die OECD und die EU kämpfen gegen Steuerhinterziehung. Halten Sie es für realistisch, dass es in ein paar Jahren auf der ganzen Welt keine Steueroase mehr geben wird?

Wir arbeiten jedenfalls daran.

Länder wie Österreich oder Luxemburg tun sich schwer mit diesem Prozess.

Aber er kommt voran. 2009 haben die G20-Staaten beschlossen, Länder zu sanktionieren, die sich weigern, Steuerdaten von Anlegern preiszugeben. In den zehn Jahren vor 2009 hatten wir auf Grundlage des OECD-Standards zum Austausch von Steuerinformationen nur etwa 40 bilaterale Vereinbarungen. Seitdem ist die Zahl auf gut 800 gestiegen, und es werden täglich mehr. 120 Staaten tauschen auf Verlangen Informationen aus. 60 davon gehen nun zu einem automatischen Verfahren über, diese Woche kommen noch einmal 16 hinzu. Der letzte EU-Gipfel hat sich mit dem Thema beschäftigt, der OECD-Ministerrat auch. Unser Ziel ist es, einen einheitlichen Standard für die 120 Länder einzuführen. Steuersünder können sich also nicht mehr verstecken. Überall drohen ihnen Steuerfahnder und Polizisten.

Multinationale Unternehmen nutzen Schlupflöcher in vielen Ländern, um ihre Steuerlast extrem zu drücken.

Im Juni werden wir einen Aktionsplan vorstellen, mit dem sich viele Schlupflöcher schließen lassen. Das Problem: Was die Firmen tun, ist legal. Unternehmen, die viele Länder-Gesellschaften haben, oder sich Briefkastenfirmen leisten können, zahlen effektiv kaum Steuern – Google, Starbucks oder Apple. Sie verschieben Gewinne über Grenzen und nutzen das System, das eigentlich eine doppelte Besteuerung in zwei Staaten verhindern sollte. Jetzt erreichen manche eine doppelte Nicht-Besteuerung.

Wenn das legal ist, brauchen Sie einen neuen, weltweiten Standard.

Wenn Sie der Finanzminister sind und Ihnen Geld in der Kasse fehlt, was tun Sie? Sie streichen Ausgaben und erhöhen die Steuern für die Bürger, die nicht fortziehen können. Oder für den Mittelstand. Das ist unfair.

Wie wäre es mit einer schwarzen Liste für solche Unternehmen?

Das ist keine gute Idee. Es geht darum, die nationalen Steuergesetze zu ändern.

Das wird Jahre dauern.

Das internationale Steuerregime aufzubauen hat 70 Jahre gedauert. Aber egal, wie lange es dauert, wir müssen es tun.

— Das Gespräch führte Carsten Brönstrup

DER MEXIKANER
José Ángel Gurría (62) ist seit sieben Jahren Chef der OECD. Der Mexikaner ist der erste Vertreter eines Schwellenlandes an der Spitze dieser Organisation. Zuvor war er in den 90er Jahren erst Außen- und dann Finanzminister seines Landes. Gurría hat Wirtschaftswissenschaften studiert und spricht neben fünf weiteren Sprachen auch etwas Deutsch.

DIE ORGANISATION
Die OECD mit Sitz in Paris, 1961 gegründet, ist ein Zusammenschluss von 34 Industriestaaten, die sich der Marktwirtschaft verpflichtet fühlen. Sie sieht sich als Forum für gemeinsame Standards und Problemlösungen in fast allen Politikbereichen außer der Verteidigung. Zuletzt traten 2010 Chile, Slowenien, Estland und Israel bei. Von ihrem Budget (347 Millionen Euro) werden unter anderem 2500 Mitarbeiter bezahlt.

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