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Wirtschaft: Offene Rechnung

Die Steuerreform soll Konsum und Konjunktur ankurbeln, doch Ökonomen zweifeln am erhofften Wachstumsschub

NIEDRIGERE STEUERN = MEHR KONSUM: EINE GLEICHUNG MIT UNBEKANNTEN

Noch 166 Tage, dann wird alles anders. Im Winter 2003/2004 sollen sich die leeren Taschen der Bürger wieder mit Geld füllen, soll beim Konsumklima Tauwetter anbrechen und über den Kassen der Einzelhändler wieder die Sonne lachen. Das zumindest versichert die Bundesregierung und wirbt so für eine der größten Steuerentlastungen in der Geschichte der Republik. Be- und Entlastungen zusammengenommen können die Bürger 2004 zehn Milliarden Euro mehr ausgeben, wenn sich Rot-Grün im Bundesrat durchsetzt. Doch ob dies auch den erhofften Nachfrageschub auslöst und die Wirtschaft in Schwung bringt, ist ungewiss. Experten warnen vor Euphorie – weil niemand weiß, was die Verbraucher mit dem frischen Geld anstellen werden.

Das Kalkül der Steuersenker simpel: Niedrigere Steuern sollen den Impuls geben, der das Land aus der Konjunkturkrise holt. Seit drei Jahren legt die deutsche Wirtschaft kaum noch zu, keine Schwächephase nach dem Krieg hat sich als so zäh und langwierig erwiesen. Schuld daran ist nicht nur der Niedergang der Weltwirtschaft, sondern vor allem die Nachfrageschwäche im Inland. Die Leute halten das Geld zusammen, kaufen nur noch das Notwendigste – und das bei den Discountern wie Aldi oder Lidl. Den Rest ihres Netto-Einkommens legen sie auf die hohe Kante: Seit 2001 steigt die Sparquote wieder auf gut zehn Prozent an. Zuvor war sie seit Anfang der 90er Jahre beständig gesunken.

Vorsorge als Massen-Psychose

Schuld am Drang zur Vorsorge ist eine Art Massen-Psychose. „Der Konsument gehört eigentlich auf die Couch“, sagt Ulrich Kater, Volkswirt bei der Deka-Bank. Die Serie negativer Nachrichten – Rezession, Arbeitslosigkeit, Terror, Irak-Krieg, Sars, geringe Lohnzuwächse – hat eine Angst-Krise ausgelöst. Und Unsicherheit ist Gift für den Konsum. „Die Leute geben ihr Geld erst aus, wenn sie Hoffnungen auf bessere Zeiten haben“, sagt Kater.

Die Optimisten unter den Ökonomen glauben, dass die Zuversicht nun zurückkehrt. „Mehr Geld im Portemonnaie, steigende Aktien, die Reformen – das sollte den Leuten Mut machen, wieder einzukaufen“, hofft Robert Weitz, Chefvolkswirt des Einzelhandelsverbandes HDE. Profitieren dürften seiner Einschätzung nach vor allem Güter, bei denen die Käufer zuletzt geknausert haben – Textilien, Schuhe, Unterhaltungselektronik.

Ob das Kalkül aufgeht, ist offen. „Was die Leute mit dem Geld machen werden, ist extrem schwer vorherzusagen“, gibt Wolfgang Twardawa von der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zu. Steuersenkungen mitten in einer Wirtschaftskrise hat es in Deutschland lange nicht gegeben, deshalb ist die Wissenschaft ratlos. Erfahrungen aus anderen Ländern sind nur bedingt übertragbar. „Der Verbraucher in Amerika tickt anders – er war trotz Krise konsumfreudig und hat auf Pump gekauft“, sagt Twardawa.

Forscher spielen nun Szenarien durch, wie viel von dem zusätzlichen Geld, das der Staat seinen Bürgern lässt, in den Einzelhandel fließen wird. „Gut 40 Prozent der Steuerentlastungen kommen Besserverdienenden zugute – und die geben prozentual weniger vom Einkommen aus als sozial Schwache“, gibt Roland Döhrn vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen zu bedenken. Die Folge: Der Effekt der Entlastung wäre gering. Ähnlich wäre es, wenn die Leute mit dem Geld ins Ausland reisen, sagt Twardawa von der GfK.

Nicht auszuschließen ist auch, dass die Steuerentlastungen gar keine Wirkung auf den Konsum entfalten. „Womöglich sind die Leute wegen der Reformen und der Belastungen zusätzlich verunsichert – und sparen nicht weniger, sondern mehr“, sagt Twardawa. Etwa, weil sie glauben, mehr für den Zahnersatz oder für das Alter zurücklegen zu müssen. Oder weil sie fürchten, dass die Schulden, mit denen der Finanzminister die Steuersenkung bezahlen will, bald in Form höherer Steuern wieder zurückkommen, sagt RWI-Forscher Döhrn. „Dann würde die Steuersenkung fast wirkungslos verpuffen.“

Sicher ist: Wenn die Deutschen den zusätzlichen Reichtum bemerken, sparen sie zuerst. „Das vorübergehende Ansteigen des Sparens ist bei Steuerentlastungen öfter zu beobachten“, sagt Deka-Volkswirt Kater. Das habe sich schon bei der Steuersenkung 2001 gezeigt. Die GfK hat erst einmal eine Studie gestartet, um den Konsumenten, das unbekannte Wesen, und seine Pläne nach der Steuerreform zu ergründen. „In ein paar Wochen wissen wir mehr“, sagt Forscher Twardawa. Genaues gibt es frühestens in 166 Tagen.

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