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Opel-Werk: Auslaufmodell Bochum

Dass Opel in Bochum keine Autos mehr fertigen lassen will, könnte nicht nur den Verlust von mehr als 3000 Arbeitsplätzen bedeuten. Es ist auch das Ende eines Mythos. Denn der Autobauer war nicht irgendein Arbeitgeber. Er war ein Erlöser. „Opel ist Bochum, und Bochum ist Opel“, sagt man im Ruhrgebiet.

Ein Rettungsvorschlag für das Opel-Werk in Bochum geht am Mittwoch gegen neun Uhr per Mail an den Opel-Chef Thomas Sedran, an die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, an die Oberbürgermeisterin von Bochum, Ottilie Scholz. Die Idee: Anstelle von Opel-Modellen soll General Motors ab 2016 Elektroautos im Bochumer Werk produzieren. Der Absender, „Opelaner“ Norbert Spittka, bittet, den Vorschlag genau zu studieren. Es müssten schließlich alle Anstrengungen unternommen werden, um das Bochumer Werk zu retten.

Für den Fall, dass der Vorschlag nicht überzeugt, wird Norbert Spittka – 63, grau-blond, rundes, freundliches Gesicht – wenig später gemeinsam mit einem Freund eine E-Mail an VW-Chef Martin Winterkorn schicken. Die Bitte: Volkswagen möge doch in Bochum Autos bauen.

Beide Mails enthalten den Satz: „Opel war die schönste Zeit in meinem Leben.“

Etwa zur selben Zeit wechselt am Mittwochmorgen vor dem Opel-Werk in Bochum die Tagschicht die Nachtschicht ab. Im Schneetreiben hasten Männer aus der Werkshalle mit dem riesigen Opel-Zeichen auf dem Dach zur Stadtbahnhaltestelle. Was bedeutet es, dass Opel ab 2016 keine Autos mehr in Bochum produzieren wird? „Was soll man dazu sagen?“ „Das ist ein Schlag ins Gesicht aller Opelaner. Wir geben schließlich alles, um die Qualität der Autos zu wahren – obwohl wir wegen der Personalkürzungen viel zu wenige sind.“ „Ich habe erst vor kurzem ein Haus gekauft – und jetzt?“ Schulterzucken. Die Männer ziehen weiter.

Das angekündigte Ende der Autoproduktion in Bochum bedeutet viele kleine Dramen. In manchen Familien arbeiten der Großvater, die Großmutter, der Vater, die Mutter, der Sohn und die Tochter im Opel-Werk. Für die Opel-Mitarbeiter kam das Ende aber nicht ganz unerwartet. Schon im Sommer kündigte General Motors an, in Bochum werde 2016, wenn die Produktion des Familienwagens Zafira ausläuft, voraussichtlich kein neues Modell hergestellt. Und bereits im Jahr 2004 wurde das erste Mal öffentlich darüber nachgedacht, das Werk in Bochum zu schließen.

Das endgültige Aus folgt der marktwirtschaftlichen Logik. Der Absatzmarkt von Opel ist Europa – den Zugang zu anderen Kontinenten hat der Mutterkonzern General Motors der deutschen Tochter verwehrt, die Marke soll dort keine Konkurrenz für die amerikanischen Modelle sein. Doch die Europäer kaufen wegen der Euro-Krise immer weniger Neuwagen. Außerdem werden Opel-Modelle mittlerweile günstiger in Polen oder noch weiter im Osten produziert. Die Werke in Deutschland sind nicht ausgelastet, schon lange nicht mehr, auch Bochum nicht.

Das Aus ist aber mehr als das Drama einer Werkschließung. Es ist das Ende eines Mythos. Opel ist Teil der Geschichte des Ruhrgebiets. Als Anfang der 60er Jahre die Zechen zumachten, kam Opel nach Bochum. Der Konzern war in dieser Situation nicht irgendein Arbeitgeber, er war ein Erlöser. So gut wie jeder, der sich bewarb, wurde genommen. Es gab traumhafte Löhne, alle verdienten anfangs übertariflich, und im Vergleich zu den Zechen herrschten gute Arbeitsbedingungen.

„Diese Geschichte schwingt bis heute mit, wenn jemand Opel sagt“, erklärt Paul Aschenbrenner, Stadtdirektor in Bochum und zuständig für die Wirtschaftsförderung. Ein bisschen angekratzt wurde das Erlöser-Image zwar, als das Unternehmen in den 90er Jahren das erste Mal rote Zahlen schrieb und die Bänder immer wieder stillstanden. Und bei der Krise von 2004. Und als Opel 2009 zum Verkauf stand. Aber das Image wurde eben nur angekratzt. Die historische Aufladung blieb.

Auch Aschenbrenner ist deshalb nicht nur aus beruflichen Gründen betroffen. „Wenn Opel bei uns keine Autos mehr baut, bricht etwas ganz Entscheidendes weg“, sagt er in seinem holzgetäfelten Büro im Bochumer Rathaus. „Opel ist Bochum. Bochum ist Opel.“ Der Stadtdirektor glaubt jedoch nicht, dass die Arbeitslosenrate in die Höhe schnellt oder dass der Konsum einbricht. In den vergangenen zehn Jahren hat Opel fast 6000 Leute entlassen oder frühzeitig in den Ruhestand geschickt, und es gab keinen Knick in der städtischen Statistik. Aber er weiß auch, dass die Situation jetzt anders ist. Die Handelskammer Mittleres Ruhrgebiet schätzt, dass neben den Stellen im Werk 10 000 Arbeitsplätze in der Region an Opel hängen.

Aschenbrenner ist trotzdem überzeugt, dass die Stadt das Aus der Opel-Produktion wirtschaftlich wegstecken wird. „Wir sind nicht wie früher von Opel abhängig. Die Region steckt mitten im zweiten Strukturwandel, wir haben Alternativen: die Ruhruniversität, die Gesundheitswirtschaft, die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen.“ Aber es geht eben nicht nur um das Wirtschaftliche.

Opelaner identifizieren sich mit dem Opel-Mythos

Die Opelaner identifizieren sich mit dem Opel-Mythos, auch Norbert Spittka. 34 Jahre lang hat er in der Finanzabteilung gearbeitet. „Das Werk war mein zweites Zuhause“, sagt er. Norbert Spittka war 21, als er bei Opel anfing, stieg vom Industriekaufmann auf zum Projektmanager. Aber nicht nur das. Spittka, Sohn einer Arbeiterfamilie, sah bei Opel, dass Arbeiter Rechte hatten, dass sie gemeinsam tatsächlich stark waren.

Als ein Vorgesetzter ihm einmal ohne Grund Verantwortung entzog, seine Mailadresse von wichtigen E-Mail-Verteilern nahm, ging Spittka zum Betriebsrat. „Sie nehmen den Herrn Spittka wieder auf die Verteiler“, sagte der Kollege vom Betriebsrat zum Vorgesetzten. Als der ihn unterbrach, entgegnete der Betriebsratsvertreter schneidend: „Sie fallen mir nicht ins Wort, und Sie machen, was ich sage, sonst werden Sie das noch bereuen.“ Von da an war der Vorgesetzte äußerst freundlich zu Norbert Spittka.

Seit acht Jahren ist er jetzt weg von Opel. 2004 ging er, in der ersten großen Krise, da war er gerade 55. Er gehörte zu den Jahrgängen, denen die Personalabteilung damals ein Angebot unterbreitete, über den Sozialplan auszusteigen. Die Bedingungen waren gut, Spittka schlug ein. „Was sollte ich noch da, wenn die mich loswerden wollen?“ Dass er nicht mehr gebraucht wurde, spürte er schon lange. Computer erledigten mittlerweile den Großteil seiner Arbeit, 110 seiner früher 120 Kollegen waren nicht mehr da. „Das nahende Ende war zu spüren“, sagt er. „Es war ein bisschen so, als ob du zusehen musst, wie deine Familie kaputtgeht.“

Spittka spürte nicht nur, dass es zu Ende ging. Er kannte auch die Finanzpläne und wusste, dass bis 2013 nicht in das Werk investiert werden sollte. Er sah, wie Ziegelsteine aus den Klinkerbauten fielen, weil die Fugen nicht mehr ausgebessert wurden. Und wie ein Dach einstürzte, weil es nicht repariert worden war. Als Spittka bei Opel begann, arbeiteten rund 23 000 Menschen im Bochumer Werk. Als Spittka 2004 ging, waren es noch knapp 6000 Mitarbeiter. Mittlerweile sind es noch 3200.

Norbert Spittka könnte nun seinen Ruhestand genießen. Er hat seiner Familie mit dem Opel-Gehalt – „ich bekam in guten Zeiten 6000 Mark brutto!“ – ein Reihenhaus aus rotem Klinker gebaut und abbezahlt, mit Vorgarten und Garage.

Aber eigentlich hat er Opel gar nicht verlassen, wenn man es genau nimmt. Fast jeder seiner Tage beginnt und endet mit Opel. Gleich nach dem Aufstehen tippt Spittka „Opel“ in die Suchmaske bei Google News, dann sieht er nach, was es Neues im Opelaner-Forum gibt. Das Gleiche macht er vor dem Schlafengehen. Spittka hat das Forum vor ein paar Jahren gegründet. Rund 600 User sind registriert. Kurz bevor er sein Büro im Opel-Werk verließ, baute er auch die Webseite des Betriebsrats auf. Er betreut sie heute noch.

Nachdem Spittka am Mittwochvormittag die E-Mail an den Opel-Chef und die Ministerpräsidentin verschickt hat, öffnet er die Forum-Seite. Seinen Computer hat er am Wohnzimmertisch aufgeklappt, von dort blickt er auf den verschneiten Vorgarten. Seine Frau bereitet in der Küche Kohlrouladen zu.

Norbert Spittka schreibt: „Wir vom Opelaner-Forum unterstützen euch mit aller Kraft beim Kampf um den Erhalt eurer Arbeitsplätze. Ihr könnt das Forum als Informationsplattform nutzen.“

Ein paar Arbeiter antworten, fast alle sind gegen Streiks, sie wollen erst mal abwarten. „Wie kann das sein?“, fragt Norbert Spittka. Auch er hat zwar das Gerücht gehört, dass General Motors auf wilde Streiks spekuliere, um sich so die Abfindungen zu sparen. „Aber es gibt doch noch so viele Möglichkeiten! Die Arbeiter könnten in der Pause oder nach Schichtende vor dem Werkstor demonstrieren. Sie können Bettlaken mit ,Opel bleibt’ an ihre Balkone hängen. Wieso macht das keiner?“ Spittka spricht jetzt sehr laut. „Am Dienstagmorgen dachte ich kurz, jetzt geht es los, als Betriebsratschef Einenkel eine spontane Demo organisierte. Aber nach einer Stunde war schon wieder alles vorbei.“ Und jetzt?

Auch beim Schichtwechsel um zwei Uhr ist es ruhig am Werkstor.

Morgen, am Samstag, wollte Bochum das 50-jährige Jubiläum des Opel-Werks feiern. Mit einer Ausstellung, Musik und viel zu essen.

Norbert Spittka fragte am Dienstag im Forum: Wir starten jetzt mal eine Umfrage, wie viele Interessierte am 15.12. 2012, also am kommenden Samstag, am 50. Opel-Jubiläum teilnehmen werden.

Ein User antwortete: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie diese Feier ablaufen soll. Ich habe noch keine Beerdigung erlebt, auf der gefeiert wurde.

Am Donnerstag hat der Opel-Vorstand die Jubiläumsfeier abgesagt. Die Sicherheit der Besucher sei nicht gewährleistet, hieß es.

Kurz darauf schickte Spittka seinen Vorschlag zur Rettung Opels an die Bundeskanzlerin und an den Verkehrsminister.

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