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ORTSTERMIN: Die Dimension des Unfassbaren

Das Undenkbare zu denken, ist auch dem Chef einer Zentralbank erlaubt. Sagen darf er es nicht.

Das Undenkbare zu denken, ist auch dem Chef einer Zentralbank erlaubt. Sagen darf er es nicht. Zum Beispiel: Griechenland müsste eigentlich aus dem Euro austreten. Jean-Claude Trichet, bis 2011 Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), war und ist ein Meister der Zwischentöne. Zwar hat er nichts mehr zu entscheiden bei der EZB. Trotzdem hört man immer noch genauer hin, wenn der Franzose sich zur Lage in Europa äußert.

Auch deshalb vermied Trichet am Freitag in Berlin wohl ein klares Wort zu Griechenland. Stattdessen wählte er Zwischentöne: „Ich habe Dinge erlebt, die für mich undenkbar waren“, sagte er bei der Graduierungsfeier der Hertie School of Governance im Konzerthaus am Gendarmenmarkt.

Gemeint waren die Lehman-Pleite Ende 2008 und der „Tsunami“ der Finanzkrise, der die Weltwirtschaft in eine tiefe Depression stürzte. Und gemeint waren die Folgen: die Schuldenkrise in den Peripherieländern der Euro-Zone. „Wir neigen dazu, die Dimension dieser Ereignisse zu vergessen“, sagte Trichet. Der „naive Glaube“, die Industrieländer könnten von tiefgreifenden Krisen nicht erschüttert werden, sei widerlegt worden.

Es zeige sich, dass die Geld- und Finanzpolitik beim Krisenmanagement an ihre Grenzen stoße. „Wir müssen über das hinausgehen, was wir bislang unternommen haben“, sagte Trichet vor 85 Absolventen der Hertie-School aus 32 Ländern. Der Austritt Griechenlands? Nein, Trichet schlägt eine Art Föderation für Ausnahmefälle vor, in der es möglich sein soll, ein Euro-Land für bankrott zu erklären und seine Haushaltspolitik zu übernehmen. „Dies gilt nur für den Fall, dass ein Land Probleme bekommt, die die Währungsunion als Ganzes gefährden“, sagte Trichet. Demokratisch legitimiert werden müsse die Intervention durch den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs und das Europäische Parlament.

Ist der Euro zu retten? Jean-Claude Trichet rechnete nicht ohne Stolz vor, dass die Europäische Zentralbank fast ein Vierteljahrhundert für Preisstabilität im gemeinsamen Währungsraum gesorgt habe. Dies sei angesichts der Krise beeindruckend und ein Wert an sich, der von der Bevölkerung Europas besonders geschätzt werde. Es ist ein Plädoyer für den Erhalt der Gemeinschaftswährung, das – zwischen den Zeilen – auch als Reaktion auf die polemischen Thesen des ehemaligen Bundesbankers Thilo Sarrazin gelesen werden konnte.

„Bereiten Sie sich auf außerordentliche Ereignisse vor“, rief Trichet den Hertie-Absolventen zu – den breiten Seidenschal in den Farben der Schule über die Schultern gelegt. „Sie werden mit Herausforderungen zu tun haben, von denen Sie sich noch keine Vorstellung machen.“ Und dabei wurde der 69-Jährige ein bisschen nostalgisch. Wie unfassbar sei doch die Rechenleistung eines Smartphones, wie großartig der Fall der Berliner Mauer und die Tatsache, dass es in Moskau heute mehr Milliardäre als in New York gebe. Kneifen müsse er sich, wenn er durch Peking laufe und die vielen Autos sehe – Traum oder Wirklichkeit? Griechenland, so wollte Jean-Claude Trichet da wohl sagen, Griechenland bekommen wir auch noch hin.

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