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POSITION: „Es lohnt sich, Fremden zu helfen“

Warum das christliche Gebot der Nächstenliebe wirtschaftlich Sinn macht

An zig Stellen in der Bibel finden wir die Aufforderung, „den Nächsten zu lieben wie dich selbst“. Es ist ein kluges Gebot, denn wenn man sich daran hält, dann erleichtert es uns das Alltagsleben ganz enorm. Und es verbietet uns nicht die Selbst-Liebe. „Die können wir ja besonders gut“: Darauf hat mich, den staunenden theologischen Laien, einmal Kardinal Lehmann in einer Podiumsdiskussion aufmerksam gemacht.

Wir werden also lediglich aufgefordert den Nächsten dasselbe zuzubilligen was wir selbst gerne haben. Aber Karl Lehmann hat dann darauf hingewiesen, dass die Bibel viel weiter geht als nur bis zur im wahrsten Sinne des Worts nahe liegenden Nächsten-Liebe. Kardinal Lehmann erinnerte an die viel weitergehende Forderung, die im Alten Testament, im 5. Buch Mose, zu finden ist. Dort heißt es: Gott „liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung – auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“.

Diese Aufforderung ist glasklar. Solidarität mit allen Menschen wird gefordert. Und es wird auch gleich noch eine äußerst praktische und plausible Begründung mitgegeben: „denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“. Es wird also schlicht und einfach daran erinnert, dass man selbst in die Lage kommen kann, dass man auf fremde Hilfe, die nicht vom nächsten Freund oder dem nächsten Familienmitglied kommt, angewiesen ist.

In der biblischen Welt konnte man nur denjenigen Fremden helfen, die es in das eigene Land beziehungsweise den eigenen Wohnort verschlagen hatte. Denn Hilfsorganisationen, die weltweit agieren, gab es noch nicht. Und es gab keine Solidarität zwischen Staaten. Allenfalls gab es lokale Bündnisse um sich gegen einen Aggressor zu schützen.

Erst heutzutage gewinnt das biblische Gebot der Fremden-Liebe eine permanente Bedeutung. Denn es ist Hilfe in weltweitem Maßstab möglich – und auch Hilfe in weltweitem Maßstab geboten. Und auch da gilt: Hilfe, die den Fremden gewährt wird, wird sich langfristig lohnen. Das Gebot der Bibel appelliert im Grunde nur an den wohlverstandenen Eigennutz. Das Gebot ist allerdings bitter notwendig, den unser Eigennutz ist meistens nicht vorausschauend genug. Den unmittelbar Nächsten helfen wir meist gerne, denn die biologische Evolution hat uns spontane Hilfsbereitschaft in die Wiege gelegt. Das zeigen immer mehr wissenschaftliche Untersuchungen. Aber Hilfe gegenüber weit entfernten Fremden ist uns nicht angeboren; deswegen macht es im Falle von Naturkatastrophen einen so großen Unterschied, ob wir Bilder sehen (dann spenden wir) oder nicht. Hilfe für nicht unmittelbar sichtbare Not ist auf die Durchsetzung durch Religion und Kultur angewiesen. Dazu gehört insbesondere die politische Kultur.

Hilfe Fremden gegenüber ist natürlich sinnlos, wenn sie nicht hilft, sondern nur eine Aktivität ist, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Dass man mit Verstand helfen soll, darauf weisen Ökonomen immer wieder hin, um damit das Unterlassen von Hilfe zu begründen. So solle man zum Beispiel das Schuldenmachen nicht belohnen.

Zum Gebrauch des Verstandes gehört aber auch, dass man langfristig denkt und sich immer wieder klarmacht, dass man als Einzelner oder auch als ganzer Staat rasch in die Rolle des Hilfeempfängers kommen kann. Zum Beispiel sind verheerende Naturkatastrophen auch in Mitteleuropa nicht ausschließbar. Von Terroranschlägen oder technischen Katastrophen ganz zu schweigen. Oder Finanzdesaster, die in einer hochgradig vernetzten (Finanz-)Welt an Grenzen nicht haltmachen. Das heißt: Um zum Beispiel Staaten zu helfen, die durch ihr Finanzgebaren „selbst schuld“ an ihren Problemen sind, muss man kein Altruist sein, sondern es reicht das Bibelwort ernst zu nehmen, den Fremden zu helfen. Weil man ganz schnell selbst auf fremde Hilfe angewiesen sein kann.

Der Autor ist Professor für Volkswirtschaft der Technischen Universität Berlin und Mitglied der Sozialkammer der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

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