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Wirtschaft: Rau erneuert Kritik an der Marktwirtschaft Auf dem Kongress des Gewerkschaftsbundes fordert der Bundespräsident mehr Solidarität und Gerechtigkeit

Berlin (alf). Bundespräsident Johannes Rau möchte der Marktwirtschaft Grenzen setzen.

Berlin (alf). Bundespräsident Johannes Rau möchte der Marktwirtschaft Grenzen setzen. Zwar sei der Markt ein unverzichtbares Instrument, sagte Rau am Montag zur Eröffnung des DGB-Kongresses in Berlin. Der Markt tauge aber „nicht als Ordnungsrahmen für ein ganzes Gemeinwesen“, da er weder Solidarität ersetzen noch Gerechtigkeit herstellen könne. Unter dem Beifall der 400 Gewerkschaftsdelegierten kritisierte Rau die Finanzierung der deutschen Einheit zu einem erheblichen Teil aus den Sozialkassen.

Wenn stattdessen einheitsbedingte Kosten aus Steuermitteln finanziert würden, dann könnten die Lohnnebenkosten „zum Teil deutlich gesenkt werden“, meinte Rau. Im Jahr 2000 hätten ausschließlich die Beitragszahler rund 15 Milliarden Euro „für eine gesamtdeutsche, für eine gesamtstaatliche Aufgabe aufgebracht“. Für den Fall einere Steuerfinanzierung wären auch Beamte und Selbstständige an der Finanzierung beteiligt, was wiederum die Reduzierung der Sozialbeiträge ermöglicht hätte, sagte Rau.

Im Berliner ICC findet in dieser Woche der Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes statt. Im Mittelpunkt steht dabei die Wahl eines neuen Vorstandsvorsitzenden. Der 62-jährige Dieter Schulte stellt sich nach acht Jahren an der DGB-Spitze nicht wieder zur Wahl. Einziger Kandidat für den Posten ist der bisherige Vize-Vorstandschef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Michael Sommer (50). Der DGB ist die Dachorganisation der noch in Deutschland vorhandenen acht Einzelgewerkschaften und soll deren gemeinsame Interessen vertreten.

Dieter Schulte erinnerte die Delegierten an den Kongress vor vier Jahren, als heftig über den Umzug des DGB von Düsseldorf nach Berlin diskutiert worden war. Er bezeichnete den Umzug „auch als ein Zeichen für den tiefgreifenden Wandel, den die Gewerkschaften durchmachen“. Der Weg der organisierten Arbeitnehmer führe von den Stahlhütten an Rhein und Ruhr zu den Gründerzentren und Gewerbeparks an der Spree.

Schulte räumte ein, dass Frauen, junge Menschen und Hochqualifizierte heute kaum noch Interesse an den Gewerkschaften hätten. „Wir müssen noch moderner und zukunftsfähiger werden“, sagte Schulte. Aber gleichzeitig „wollen wir auch das bleiben, was wir seit 150 Jahren sind: Interessenvertreter der Arbeitnehmer, Schutzschild der Schwachen, Solidargemeinschaft über Standesgrenzen hinweg“. Mit Blick auf die Bundestagswahl sprachen sich sowohl Schulte als auch der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske für eine Wiederwahl der rot-grünen Bundesregierung aus.

Rau meinte in seiner Rede, der Standort Deutschland sei besser als sein Ruf. Und dass die Löhne hier zu Lande so hoch seien, ist für den Bundespräsident „Ausdruck einer hohen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“. Der zunehmende Wettbewerb durch Billiglohnländer muss Rau zufolge Konsequenzen haben: „Wir müssen stärker werden in anspruchsvollen Dienstleistungen, und wir müssen besser werden bei anspruchsvollen Produkten, die gerade nicht in jedem Land billiger produziert werden können.“

Deshalb sei ein gut funktionierendes Bildungssystem unverzichtbar. Der Bundespräsident kritisierte Wirtschaftswissenschaftler und Publizisten, die im Rahmen der Standortdebatte immer die USA als Vorbild hinstellten. Weder das amerikanische „Hire and Fire“, noch ein Urlaubsanspruch von zehn Tagen seien erstrebenswert. „Da wird mir zu viel in Vortragssälen theoretisiert und zu wenig auf die Lebenswirklichkeit der Menschen geachtet“, sagte der Bundespräsident. Neben dem Bundespräsidenten werden in dieser Woche auch noch Bundeskanzler Gerhard Schröder, Kanzlerkandidat Edmund Stoiber und die Parteivorsitzenden von PDS, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auftreten.

Der 17. Ordentliche DGB-Bundeskongress steht unter dem Motto „Neue Zeiten - Neue Chancen“. Mit dem 50-jährigen Michael Sommer soll an diesem Dienstag ein neuer Chef gewählt werden. Er ist einer von vier stellvertretenden Vorsitzenden der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Zuvor war er Vize der Postgewerkschaft, die 2001 in Verdi aufging. Da Verdi mit knappem Vorsprung die größte Gewerkschaft ist, fiel ihr das Recht zu, den DGB-Chef zu stellen. Neu in den Vorstand rückt der IG-Metaller Dietmar Hexel - eine Bedingung der Metaller, um der Nominierung Sommers zuzustimmen .

In Gewerkschaftskreisen gilt der Diplompolitologe Sommer als durchsetzungsstarker Funktionär. Sommer wurde am 17. Januar 1952 in Büderich bei Düsseldorf geboren und wuchs in Berlin auf, wo er Politische Wissenschaften studierte. Der neue DGB-Chef ist – wie der alte auch – SPD-Mitglied, verheiratet und hat eine zwölfjährige Tochter. Sommer gilt als heller Kopf, aber auch als eitel. Als im März 2001 in Berlin Verdi gegründet wurde, stellte die Gewerkschaft ihre Führung in einer Broschüre vor. Sommer aber nur auf der zweiten Seite. Dem Vernehmen nach soll dieser „Affront“ gegen den damaligen Postgewerkschafts-Vize beinahe zum Auszug der Postler geführt haben.

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