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Teure Abhängigkeit. Manche Kassenmitglieder verursachen mehr Kosten als andere. Eine Studie zu dem Thema geht mit der Gesundheitspolitik der Regierung hart ins Gericht. Das Werk passt dem Ministerium nicht – und schmort seit Wochen in der Schublade. Foto: dpa

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Wirtschaft: Risiko Gutachten

Experten fordern stärkeren Ausgleich zwischen armen und reichen Krankenkassen. Die Regierung lehnt ab

Berlin - Mit Gutachten ist es in der Politik so eine Sache. Man bestellt sie in Erwartung eines bestimmten Ergebnisses – und ist enttäuscht, wenn sie anders ausfallen. Dann verschwinden die ungeliebten Expertisen schnell in irgendeiner Ministeriumsschublade. So geschehen etwa bei einer Studie des Berliner Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) über private Krankenversicherer im vorigen Jahr. Ältere und Kranke würden dort nicht effizient abgesichert, lautete das unrühmliche Ergebnis. Für das FDP-geführte Wirtschaftsministerium war klar: ab in den Giftschrank damit.

Jetzt hat es wieder ein FDP-Ressort erwischt. Bei Daniel Bahr, dem Gesundheitsminister, liegt seit fast vier Monaten eine Expertise des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesversicherungsamt. Untersucht wurde darin auf 236 Seiten, ob und wie der umstrittene Risikostrukturausgleich (RSA) der gesetzlichen Krankenversicherung funktioniert. Der Befund lautet: ganz gut, könnte aber noch besser sein. Die Experten empfehlen den weiteren Ausbau und eine Verfeinerung des Regulariums.

Den Regierenden passt das gar nicht in den Kram. In ihrem Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSU und FDP schließlich auf das Gegenteil verständigt: Sie kündigten an, den Finanzausgleich, der sich nicht nur an Alter und Geschlecht der Versicherten, sondern auch an der Häufigkeit von 80 bestimmten Krankheiten orientiert, wieder zurückzufahren. Er werde, so heißt es auf Seite 86, „auf das notwendige Maß reduziert, vereinfacht sowie unbürokratisch und unanfällig für Manipulationen gemacht“. Ein Gesundheitsfonds mit Risikoausgleich: Vor allem für die FDP war das immer Teufelszeug.

Bahrs Vorgänger Philipp Rösler hatte wohl gehofft, dies auch von der Wissenschaft bestätigt zu bekommen. Doch das Gegenteil geschah. Die Manipulationsthese wollten die sechs Gesundheitsweisen um die Medizinökonomen Jürgen Wasem und Eberhard Wille schon mal nicht bestätigen. Dafür hatten sie anderes zu beanstanden. Es gebe „Verbesserungsbedarf hinsichtlich der Deckungsquoten“, heißt es in dem Gutachten, das dem Tagesspiegel vorliegt. Für Schwerkranke erhielten die Kassen nach wie vor zu wenig Geld aus dem Fonds, für Gesunde dagegen gebe es „spürbare Überdeckungen“. Die Geldzuteilung nach 80 festgelegten Krankheiten sei zu wenig zielgenau. Besser wäre es, auch für 286 weitere Erkrankungen Zuschläge zu zahlen. Der Anreiz, vor allem Junge und Gesunde zu versichern, also „Risikoselektion“ zu betreiben, ist demzufolge keineswegs beseitigt.

Die Kassen spüren das seit langem. Ein krasses Beispiel präsentiert die Deutsche BKK. 2010 zahlte sie für die Behandlung einer 70-jährigen Krebspatientin mit Metastasen in Lunge und Verdauungstrakt 150 000 Euro, vorwiegend für teure Arznei. Aus dem Fonds bekam sie aber nur 23 000 Euro erstattet. Bei den Alten sei es nicht anders, klagt die Kasse. Bei 17 000 ihrer versicherten Rentner betrage das Defizit pro Kopf „mindestens 10 000 Euro“. Allein für diese Versichertengruppe fehlten ihr 428 Millionen Euro.

Wohin das führt, war im Mai dieses Jahres zu besichtigen. Als die City BKK mit ihren überdurchschnittlich vielen alten und kranken Mitgliedern pleiteging, schalteten die anderen Kassen auf stur. Keiner wollte deren teure Klientel haben. Alte Menschen, die sich auf die Suche nach einem anderen Versicherer machen mussten, wurden vertröstet, abgewiesen, schikaniert. Und das Gesundheitsministerium gab sich mächtig empört darüber.

Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates belegt nun, dass die Kassen für ihr Fehlverhalten ökonomische Gründe hatten. Die Nachteile der Versicherung vieler schwerkranker und alter Menschen werden nicht komplett ausgeglichen. Hinzu kommt: Wer Großstädter versichert, hat noch mal höhere Kosten. Auch diese Unterdeckungen, so der Befund, seien nicht beseitigt. Die Kunden der City BKK waren fast ausnahmslos Städter, sie kamen aus Berlin, Hamburg und Stuttgart.

Die betroffenen Kassen hoffen nun auf Nachbesserung – und ärgern sich umso mehr über Bahrs Verschleppungstaktik. In einem gemeinsamen Brief forderten ihn sieben Versicherer, darunter die Branchenführer AOK und Barmer GEK, bereits vor zwei Monaten zur Veröffentlichung des Gutachtens auf. Der designierte Chef des AOK-Bundesverbandes, Jürgen Graalmann, nannte es eine „Frechheit“, die Studie vier Monate „rumliegen zu lassen“ und vermutet dahinter „ideologische Gründe“. Damit werde die Arbeit des Bundesversicherungsamtes gefährdet, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“.

Aus dem Ministerium hieß es, dass man das umfassende Werk eben erst habe prüfen müssen. „In den nächsten Tagen“ werde es veröffentlicht. Allerdings verlautete am Mittwoch aus Koalitionskreisen, man werde das Thema „nicht anfassen“.

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