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Wirtschaft: Roboter statt Bauchgefühl

Maschinen sollten die Pharma-Forschung revolutionieren und Wunderpillen herstellen – aber sie versagen

Vor zehn Jahren haben uns die Arzneimittelhersteller eine Revolution versprochen. Anstatt auf das Bauchgefühl der Wissenschaftler zu vertrauen, würden neuartige Maschinen in Sekundenschnelle Tausende von Substanzen herstellen und sogleich testen. Dies würde eine Welle neuer Medikamente hervorzaubern. Heute gehen führende Forscher davon aus, dass der Plan zu einem teuren Fiasko geworden ist. Alles, was die Maschinen hervorgebracht haben, sind unzählige chemische Verbindungen, mit denen die Medizin nichts anfangen kann.

Kritiker sehen darin auch die Gründe für die anhaltende Flaute bei neuen Medikamenten. 2003 hat die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) nur 21 neue Arzneimittel genehmigt, seit den 53 Zulassungen im Jahr 1996 nahm ihre Anzahl stetig ab. Die meisten der Pharmakonzerne konnten 2003 kein einziges oder nur ein Medikament durch das Zulassungsverfahren bringen. Vielen blieb nichts übrig, als die bisherigen Produkte stärker zu vermarkten und die Angebotspalette durch kleine Variationen zu erweitern. Das hat der Branche den Vorwurf eingetragen, trotz riesiger Gewinne zu wenig für die Erforschung neuer Therapien zu tun.

Aber selbst wenn die Industrie hofft, die Probleme bald zu lösen, bleiben Zweifel an der automatisierten Forschung. Sie lässt wenig Raum für echte Entdeckungen. Auch dem Penicillin-Entdecker Alexander Fleming war 1928 eher nebenbei aufgefallen, dass ein bestimmter Schimmelpilz in einer Laborschale die Ausbreitung von Bakterien verhindert.

Pharmahersteller schätzen Durchbrüche dieser Art, verwünschen aber ihre Unvorhersehbarkeit. Der Druck, neue Produkte auf den Markt zu bringen, hat sich durch die Flut billiger Nachahmer-Produkte verschärft. Als sich gegen Mitte der neunziger Jahre mit der Kombinations-Chemie ein neues Verfahren anbahnte, war die Branche begeistert. Die Idee schien einfach: Durch die Kombination von wenigen Grundkomponenten können Roboter Tausende neuer Verbindungen kreieren. Wenn die neue Substanz in einem zweiten Schritt mit Krankheitserregern in Verbindung gebracht wird, braucht man nur noch zu sehen, ob beides miteinander reagiert. Diese Raster-Prüfung würde zwangsläufig zu neuen Medikamenten führen. „Die medizinische Chemie hat sich revolutioniert“, schrieb das britische Fachblatt Lancet 1995.

Teures Fiasko

Fast alle amerikanischen und europäischen Pharmafirmen stellten ihre Labors auf die neuen, teuren Maschinen um. Doch die Geräte blieben einiges schuldig. Carl Decicco, Chef der chemischen Forschung bei Bristol-Myers, beschreibt die ersten sechs Jahre mit der neuen Technik als Albtraum. Viele Chemiker waren davon besessen, möglichst viele Verbindungen herzustellen. Ob sich aus dem Produkt je eine alltagstaugliche Pille drehen ließe, war Nebensache.

Oft mixten die neuen Apparaturen so viele Chemikalien zusammen, dass die entstehenden Verbindungen wegen ihrer großen Moleküle im menschlichen Magen zerfielen. Andere Substanzen, die für den Einsatz in medizinischen Tröpfen gedacht waren, erwiesen sich als nicht wasserlöslich und damit nutzlos. Als man die Chemie noch von Hand mischte, dachte man über solche Dinge vorher nach. Mit der Eliminierung jeden Zufalls ist die Kombinations-Chemie vor allem entdeckungsfeindlich, kritisieren ihre Gegner. Auch heute verdanken viele Produkte ihre Herkunft einem Glückstreffer der Chemiker, etwa der Cholesterin-Senker Zetia. Als der Pharmahersteller Schering-Plough 1991 nach einer Cholesterin-Therapie fahndete, stieß man zufällig auf ein Molekül. Es versagte zwar bei der Unterdrückung des schädlichen Enzyms im Reagenzglas. Trotzdem führte es bei Hamstern zu einer Absenkung des Cholesterinspiegels. Das Mittel wurde 2002 zugelassen und beschert dem Konzern gute Gewinne.

Arvid Carlsson, der 2000 den Nobelpreis für seine Entdeckungen im Bereich der Psychopharmaka gewann, hatte lange Jahre in der klinischen Forschung zugebracht. „Die moderne Arzneimittelforschung tötet die Intuition und geistige Kreativität“, sagt er. „Man versucht, die Kreativität durch einen Roboter zu ersetzten, doch diese Maschinen haben niemals Intuition.“

Rückblickend war man bei dem Drang nach Millionen neuer Substanzen der Fehlvorstellung vom „Universum der Chemie“ aufgesessen, wie es Wissenschaftler ausdrücken. Die Anzahl der möglichen Kombinationen gängiger Komponenten liegt im mathematischen Bereich von zehn hoch 40. Doch viele der Substanzen sind für die Medizin wertlos – genau wie das Weltall, das überwiegend aus leerem Raum besteht, der nur selten von Galaxien aufgelockert wird.

Erst in letzter Zeit konzentrieren sich die Konzerne bei den Raster-Prüfungen neuer Substanzen auf tatsächlich wirksame Stoffe. Pfizer hat 600 Millionen Dollar investiert, um nutzlose Substanzen herauszufiltern, bevor sie in den Versuchsablauf gelangen. Mit Erfolg, sagt Martin Mackay, Vizechef von Pfizers Laborabteilung. Der Anteil von Verbindungen, die in weitere Testphasen gelangen, sei gestiegen. „Ob wir mit der Masche Erfolg haben, wird sich in zehn Jahren zeigen“, sagt Mackay. „Wir sind sehr zuversichtlich.“ Bislang aber hat die Kombinationstechnologie noch nicht angeschlagen.

Laut einer Studie der US-Krebsforschungsanstalt National Cancer Institute führte die Technik bis Ende 2002 noch zu keinem einzigen Medikament mit FDA-Zulassung. Selbst in den derzeitigen 350 Versuchsreihen mit Krebs-Arzneien gibt es nur ein Präparat, das den Misch-Robotern zu verdanken ist. Allerdings hat die Kombinationstechnik zur Verbesserung von Präparaten geführt.

Auch bei Bristol-Meyers glaubt man, die Anfangsprobleme überwunden zu haben. Richard Gregg, Vizechef der klinischen Forschung, sieht in zehn Jahren eine Flut hochwirksamer Medikamente anrollen. „Es hat eine Weile gedauert, bis wir uns mit den neuen Technologien auskannten.“ Inzwischen setzt man auf eine Mischung von Technik und guter alter Laborarbeit: In einem Forschungszentrum steht eine Raster-Maschine, die bis zu eine Million Substanzen auf einmal testen kann. Nebenan werden Tausende Mäuse gehalten, an denen die „Treffer“ ausprobiert werden können. Schließlich will niemand mehr jahrelang an einem Präparat basteln, das zwar im Reagenzglas wirkt, nicht aber im lebenden Organismus.

Peter Landers

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