zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Schwache Börsen noch keine Gefahr für die Konjunktur

Berlin. Die Situation ist paradox: Obwohl die Konjunktur in Deutschland und den USA auf unterschiedlichem Niveau an Schwung gewinnt, setzen die Börsen ihre Talfahrt unbeirrt fort – auch am Mittwoch.

Berlin. Die Situation ist paradox: Obwohl die Konjunktur in Deutschland und den USA auf unterschiedlichem Niveau an Schwung gewinnt, setzen die Börsen ihre Talfahrt unbeirrt fort – auch am Mittwoch. Und ein Ende ist nicht absehbar. „Die Karte Konjunkturaufschwung sticht nicht mehr“, sagt Robert Halver, Aktienstratege bei der Bank Vontobel. Bilanzskandale und geplatzte Spekulationsblasen haben das Anlegervertrauen tief erschüttert. Die Furcht, sich an Aktien die Finger zu verbrennen, ist groß. Dass die derzeitige Börsenbaisse den langsam wieder auf Touren kommenden Konjunkturmotor abwürgt, bezweifeln Experten aber.

Allgemein gilt, dass die Börse im Normalfall der Konjunktur vorauseilt. So legen bestimmte Aktien bereits in Zeiten tiefster Rezession zu, weil Frühindikatoren eine positive wirtschaftliche Entwicklung prophezeien. Steigende Kurse nehmen dann einen beginnenden Wirtschaftsaufschwung vorweg. Umgekehrt setzt der Aktienmarkt bereits auf dem Höhepunkt eines Wirtschaftsbooms zum Sinkflug an.

Doch momentan schert sich die Realität nicht um Lehrbuchweisheiten. Hauptgrund für den schwachen Aktienmarkt in den USA ist das gesunkene Vertrauen der Anleger in Unternehmen. Die Liste der schwarzen Schafe, die mit unsauberen Tricks ihre Bilanzen aufgemöbelt haben, ist lang: Energiehändler Enron, Telekomkonzern Worldcom oder das Kopierunternehmen Xerox. Für Börsianer ist es zu riskant Aktien zu kaufen, wenn sie sich auf veröffentlichte Firmendaten nicht verlassen können. „Konjunkturthemen werden dann nicht sonderlich stark gewichtet“, sagt Kai Franke, Leiter des Investment Researchs bei der BHF Bank.

Skepsis schwappt über den Atlantik

Auch in Deutschland ist die Verunsicherung der Anleger spürbar. Nicht nur Negativ-Meldungen aus Amerika sorgen für extreme Skepsis. „Seit zwei Jahren sinken hier zu Lande die Kurse“, klagt Aktienstratege Halver. „Der Depot-Manager einer Sparkasse verkauft eher zu viel als zu wenig.“ Sei es wegen der großen Bewertungsblase am Neuen Markt oder durch den Absturz der T-Aktie: Wer in der Vergangenheit herbe Verluste einstecken musste, verkauft schneller und schiebt neue Aktienengagements auf die lange Bank. Trotz Konjunktur. Auch viele institutionelle Investoren haben nach Flops der vergangenen Jahre ihre Aktien-Investments teilweise gekappt. Die Risikoprämie für den Kauf von Dax-Titeln hat seit April kräftig zugelegt.

Konjunkturforscher Günter Weinert vom Hamburger Welt-Wirtschafts-Archiv sieht noch andere Gründe für die derzeitige Baisse. „Viele US-Aktien sind immer noch überbewertet, gleichzeitig gibt es Fragezeichen hinter dem Aufschwung in den USA“, sagt der Experte. Obwohl im ersten Quartal ein starkes Wachstum von knapp sechs Prozent im Vergleich zum Vorquartal zu verzeichnen war, „sprangen die Investitionen noch nicht an". Doch gerade die würden dafür sprechen, dass die Unternehmen wieder an einen anhaltenden Aufschwung glauben.

In der Wirtschaftsgeschichte ist eine Entkoppelung von Konjunktur und Aktienmarkt selten. Auch der Börsencrash 1929, dem die Weltwirtschaftskrise folgte, war ein Anzeichen für das baldige Ende eines Wirtschaftsbooms. Der „Schwarze Freitag“ an der Wall Street sei „nicht Ursache für die folgende Rezession, sondern ihr Vorbote“ gewesen, schreibt das Deutsche Aktieninstitut in einer aktuellen Studie.

In Deutschland sei in den neunziger Jahren dagegen die Börse nicht generell ein Indikator für die Konjunktur gewesen. „Im Gegensatz zu 1929 waren Kursverluste trotz positiver Wachstumsraten zu beobachten." Dass Börsianer die Konjunktur ignorieren, kann negative Folgen für die Wirtschaft haben. Besonders in den USA, wo die Aktionärskultur weltweit am stärksten ausgeprägt ist, könnten weiter sinkende Aktienkurse den Konsum drosseln. Ein Indiz ist möglicherweise das zuletzt sinkende Verbrauchervertrauen jenseits des Atlantiks. Schmelzende Kurse können außerdem die Investitionslust von Unternehmen hemmen, die sich über die Börse frisches Kapital beschaffen wollen.

Übertreibung nach unten

Bei dem momentanen Stand der Börsen halten Experten es für unwahrscheinlich, dass die Konjunktur durch tiefe Kurse abgewürgt wird. „Wenn man nur nach den Aktienmärkten ginge, dürfte die Konjunktur schon gar nicht mehr existieren“, sagt BHF-Banker Franke. Für die Konjunkturentwicklung seien bekanntlich auch andere Faktoren, wie beispielsweise die Zinspolitik der amerikanischen oder europäischen Zentralbank, entscheidend. Sollten die Aktienmärkte aber weiterhin stark in die Tiefe rauschen, werde das nicht ohne Rückwirkung auf die Realwirtschaft bleiben, sagt Konjunkturforscher Weinert.

Börsenfachmann Franke erwartet allerdings, dass der Dax bis Jahresende wieder Gas gibt. Auch Aktienstratege Halver rechnet damit, dass sich die Aktienmärkte „fangen werden". Banker treffen ihre Prognosen dabei mittlerweile mit einem großen Vorbehalt: Es dürfe keine exogenen Schocks geben. Sollte es erneut zu Terroranschlägen vergleichbar mit dem 11. September kommen, würden die düstersten Erwartungen wahr: Börse und Konjunktur würden schnell in den Keller rauschen. Ansgar Siemens

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false