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Wirtschaft: Seit anderthalb Jahren kein echtes Geld gesehen

MOSKAU .Der Kältepol der Erde liegt nicht in der Antarktis, sondern bei Oimjakon, dem Zentrum der russischen Goldförderung.

MOSKAU .Der Kältepol der Erde liegt nicht in der Antarktis, sondern bei Oimjakon, dem Zentrum der russischen Goldförderung.In der Teilrepublik Sacha-Jakutien, neunmal so groß wie Deutschland, gibt es aufgrund des unwirtlichen Klimas nur knapp 1,9 Millionen Einwohner.Temperaturen von bis zu minus 70 Grad wurden hier schon gemessen und dieses Jahr steigt die Quecksilbersäule bereits Mitte Oktober nur selten über minus 20.Steifer Nordost fegt durch die Siedlungen der Geologen und Goldgräber und treibt feine Schneekristalle vor sich her."Das ist unser Ende", befürchtet Jurij Nikolenko.Vor zweiundzwanzig Jahren kam der Geologe aus der Ukraine in die russische Arktis, um reich und glücklich zu werden."Ihr geht einen schweren Weg.Doch der Dank der Heimat ist euch gewiß", hatte der Festredner vom kommunistischen Jugendverband versprochen.

Die Heimat hat sie vergessen.Längst sind die Heizkraftwerke in den drei Goldgräbersiedlungen demontiert.Die Temperatur in den Plattenbauten liegt bei knapp fünf Grad plus.Solange der Vorrat an Kohle reicht, die - wie alles andere auch - während des kurzen arktischen Sommers über den Nördlichen Seeweg herangeschafft werden muß.Meterhohes Packeis in der Ostsibirischen See beendete die diesjährige Navigationsperiode bereits Ende August.Den neunmonatigen Winter müssen die 2929 Einwohner der drei Goldgräbersiedlungen - darunter 468 Kinder - weitgehend ohne Kohle, Diesel und Brotgetreide durchstehen.Die Telefone sind abgeschaltet.Schule, Krankenhaus, Post und sogar die Polizeistation "aus technischen Gründen geschlossen".Jakutien, in dessen Boden gut die Hälfte aller russischen Gold- und Diamanentvorkommen lagern, hat Ende August bei der Moskauer Zentralregierung offiziell Bankrott angemeldet und die Menschen gleich mit abgeschrieben.Seit im Herbst 1994 an der Londoner Edelmetallbörse die Preise fallen, ist jakutisches Gold nicht mehr konkurrenzfähig.Schuld daran sind die hohen Produktionskosten, bedingt durch Dauerfrostboden und veraltete Technik.Die Zentralregierung in Moskau faßte daraufhin einen Beschluß zur Restrukturierung der Branche.Im Januar 1995 unterzeichnete Boris Jelzin einen Ukas mit dem der Republik Sacha-Jakutien 10 Tonnen Gold aus der Staatsreserve zwecks zeitweiliger Nutzung überlassen wurden.Sie sollten genutzt werden, um unrentable Gruben zu schließen und die Familien der Bergarbeiter in gemäßigtere Breiten umzusiedeln.Zurückbleiben sollten nur die Kumpel selbst, die die Lagerstätten abbauen und alle drei Monate ausgetauscht werden sollten.

Der sich stark ausbreitende schwarze Markt zog Tausende von chinesischen Schmugglern und illegalen Einwanderern an, die auf Arbeitsgesetzgebung pfeifen und Dumpinglöhne klaglos hinnehmen.An die russischen Arbeiter stellten die Goldgruben vor zwei Jahren die Lohnzahlungen ein.Umgesiedelt in den Süden wurden offiziell knapp 4100 Menschen.Ausgezahlt wurden sie nicht, wie vereinbart, mit Bargeld.Man bezahlte sie mit Goldschmiedeerzeugnissen, die sich wegen ihrer schlechten Verarbeitung als unverkäuflich erwiesen.Chinesische Händler zeigten sich als wenig zimperlich."Sobald Arbeiter in Natura abgefunden wurden", sagt Gewerkschaftsführer Nikolenko, "kamen chinesische Aufkäufer in die Siedlungen und boten Bares an.Allerdings nicht zum staatlich festgelegten Aufkaufpreis von 130 Rubel pro Gramm, sondern höchstens für 30 bis 40 Rubel".Alles in allem ein Verlust von 65 Prozent, rechneten viele und blieben.Vereinbart war zudem, daß das russische Finanzministerium alle drei Monate eine detaillierte Aufstellung über die Verwendung des Zehn-Tonnen-Gold-Kredits bekommt.Doch in Moskau hat man bislang nicht eine Liste gesehen, weshalb seit Anfang Oktober die Staatsanwaltschaft ermittelt.Ob und wann die fündig wird, steht in den Sternen.Die Frauen der Bergarbeiter von Sarylachsk und Neshdanninskij (Rußlands zweitgrößte Lagerstätte, wo in 18 Jahren über 20 Tonnen Gold gefördert wurden) fuhren daher am 9.Oktober in die Gruben zum Hungerstreik, den sie erst beenden wollen, wenn sie "lebendiges Geld" sehen - richtige Scheine, die hier vor anderthalb Jahren letztmalig kursierten.Seither läßt die Grubenleitung ab und zu Lebensmittel verteilen.Das letzte Mal im Juni gab es pro Mann zwei Konserven mit Fleisch, einen Liter Sonnenblumenöl, 800 Gramm Margarine und einen halben Sack Mehl.Und die Zusage, die Kosten für Beerdigung und Überführung der Leichen in den jeweiligen Heimatort würde das Ministerium für Katastrophenschutz übernehmen.

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