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IT und Industrie wachsen immer stärker zusammen. In Deutschland ist der Prozess unter dem Begriff Industrie 4.0 in der Wirtschaft derzeit allgegenwärtig.

© dpa

Siemens-Vorstand Russwurm zum IT-Gipfel: „Ohne den Menschen geht es nicht“

Siemens-Vorstand Siegfried Russwurm über die moderne Fabrik, lebenslanges Lernen im Job und die Vorteile der Amerikaner.

Herr Russwurm, Siemens wirbt für die Modellfabrik in Amberg mit „99,99885 Prozent Qualität“. Ist das die Zukunft: vollautomatisch, fehlerfrei, mit sich selbst kontrollierenden Maschinen und ohne Menschen?

Das ist die Beschreibung für unseren Qualitätsstandard, den wir in Amberg erreichen. Und zwar nicht in einer menschenleeren Fabrik, sondern im Zusammenwirken von hoher Automatisierung und hoch qualifizierten Mitarbeitern. Amberg zeigt, welche Qualitäts-Level durch die Digitalisierung erreicht werden können, die mit herkömmlichen Methoden nicht möglich sind.

Sind die Steuerungen, die in Amberg gebaut werden, jetzt alle fehlerfrei?

Nicht ganz. Aber der Fehlerquotient kann sich sehen lassen: Unter einer Million Produkte sind zwölf mit einem Fehler. In der Fabrik werden jeden Tag etwa 50 Millionen Daten gesammelt, ausgewertet und auf Abweichungen vom Sollzustand untersucht. Und jede signifikante Abweichung setzt dann einen Korrekturmechanismus in Gang, der oftmals automatisch abläuft.

Der Output des Werks ist heute achtmal so hoch wie beim Produktionsbeginn 1989, die Zahl der Mitarbeiter dagegen stagniert.

Das hat verschiedene Gründe. Nicht nur bei der Produktion, sondern schon bei der Entwicklung wie auch beim Design des Produkts und bei der Produktionslinie versuchen wir, den Aufwand zu minimieren – deshalb steigt die Arbeitsplatzzahl nicht entsprechend dem höheren Produktionsvolumen.

Digitalisierung ersetzt Arbeitsplätze.

Wie schon bei der Dritten Industriellen Revolution in den 1970er Jahren, der Automatisierungswelle, werden auch diesmal einfachere Tätigkeiten wegfallen. Waren es bei Industrie 3.0 vor allem die manuellen Tätigkeiten, könnten jetzt einfache Verwaltungsarbeiten durch Computer ersetzt werden. Aber wir haben schon die dritte Industrielle Revolution gut überstanden. Vielmehr haben wir mit der starken Basis der Industrie eine Arbeitslosenquote, die so niedrig ist wie lange nicht mehr. Für die Mitarbeiter in Amberg hat die Digitalisierung im Übrigen auch eine Qualifizierung gebracht.

Inwiefern?

Die Mitarbeiter haben sich weitergebildet – und zwar keineswegs nur die Ingenieure. Grundsätzlich bleibt der Mensch auch in dieser weitgehend digitalisierten Produktion unverzichtbar.

Wie lernwillig sind die Arbeitnehmer?

Teilen Sie die Einschätzung, dass die Weiterbildungskultur hierzulande nicht ausreicht, um die Facharbeiter für die Anforderungen der Industrie 4.0 fit zu machen?

Das gilt nicht nur für die Facharbeiter. Auch Softwareingenieure müssen sich ständig weiterbilden. Bei Siemens haben wir natürlich wegen unserer Größe die Möglichkeit, ausreichend Qualifizierungsmöglichkeiten anzubieten, in kleineren Unternehmen ist das schwieriger.

Arbeitsministerin Andrea Nahles meint, bei Industrie 4.0 gehe es mehr um Investitionen in Köpfe und weniger in Technik.

Ich glaube, es braucht beides. Die Digitalisierung begegnet uns überall in unserem Leben, und wir tun gut daran, das auch in ein industrielles Umfeld zu übertragen. Das führt uns nicht zu menschenleeren Fabriken. Am Ende ist es immer der Mensch, der die Technologien einsetzt – und sich um all jenes kümmert, das Algorithmen nicht „vorhergesehen“ haben.

Wollen die Beschäftigten lernen?

Ganz überwiegend ja. Das Stereotyp: „Ich bin jetzt Anfang 50, und das wird schon noch reichen bis zur Rente“, funktioniert nicht mehr. Wenn man zehn Jahre vor sich hat, wird man mindestens noch zwei technologische Revolutionen erleben.

Wie wirkt die Plattform Industrie 4.0 der Bundesregierung auf diese Prozesse?

Es passiert sehr viel. In der Plattform haben sich mehr als 200 Akteure zusammengefunden. Da hat sich in den vergangenen Monaten eine erhebliche Dynamik entwickelt. Wir können immer besser zeigen, was real passiert. Von den Konzepten kommen wir nun zu Anwendungsbeispielen, die ja auch beim IT-Gipfel der Bundesregierung im Mittelpunkt stehen werden. Wir werden ganz unterschiedliche Beispiele in realen Produktionsumgebungen zeigen können. Und es gibt inzwischen Unternehmen, die bereit sind, anderen Unternehmen zu zeigen, wie sie die neuen Technologien einsetzen.

Auf der sogenannten Online-Landkarte sind 100 Anwendungsbeispiele und eine Vielzahl an Testumgebungen zu sehen. Was passiert da?

Dort kann man Ideen ausprobieren, ohne gleich investieren zu müssen. Das ist vor allem ein Angebot für kleinere Firmen.

Wie weit ist Deutschland beim Breitbandausbau?

Wenn die Firma aus dem hintersten Schwarzwald dann in einer Testumgebung unterwegs war und anschließend ihre Idee anwenden will, stößt sie womöglich an Grenzen der Datenübertragung.

Die Infrastruktur ist ein Aspekt der Digitalisierung. Ja, wir haben noch Nachholbedarf, aber es ist auch schon viel passiert, und erhebliche Investitionsmittel sind von der Politik freigegeben worden. Die Implementierung braucht aber Zeit. In einem Ballungsraum gibt es kein Problem mit Bandbreiten, auf der grünen Wiese kann das anders sein.

Müssen die Datenmengen immer größer werden?

Daten allein stellen keinen Wert dar. Nicht die Masse, sondern der Inhalt ist entscheidend. Es geht also nicht um Big Data, sondern um Smart Data. Daraus entsteht dann ein echter Mehrwert für den Kunden: sei es, um Energie zu sparen oder umweltfreundlicher zu wirtschaften, sei es, um die Kosten zu senken, die Prozesse zu beschleunigen oder die Zuverlässigkeit der Anlagen zu erhöhen. Dabei ist es enorm wichtig, dass die Daten sicher sind und dass ein Unternehmen seinem Partner vertrauen kann.

Die großen Datenkonzerne sitzen in den USA. Wie nachteilig ist das für die hiesige Industrie?

Wir profitieren bei der Digitalisierung der Industrie auch von Spielkonsolen und Smartphones, also von konsumorientierten Technologien. Bei der Visualisierung von komplexen Anlagen greifen wir auf Algorithmen zurück, die aus der Videospielbranche kommen. Der große Vorreiter der Digitalisierung war das Konsumentengeschäft. Und da hat Amerika den Vorteil der Skaleneffekte: 350 Millionen Menschen in einem homogenen Rechtsraum, die dazu noch technikaffin sind. Das hat dazu geführt, dass die Amerikaner die Champions bei der Digitalisierung der Konsumentenwelt sind.

Wie geht es nach dem IT-Gipfel weiter?

Und wir?

Viele Werkzeuge taugen jetzt durchaus auch für industrielle Applikationen. Und hier kommen wir zum Zuge: Wir planen in der digitalen Welt und kommen in die reale Welt zurück: Das Verstehen und Reflektieren der industriellen Welt – da sind wir in Mitteleuropa richtig gut, weil wir teilweise jahrhundertealte Erfahrungen mit bestimmten Technologien haben. Und denken Sie nur an die industrielle Basis hier bei uns – seien es große Unternehmen wie Siemens, sei es der Mittelstand. Hier ist das Rennen mindestens offen. Wir haben in der professionellen Anwendung von Digitalisierung in der Industrie eine gute Chance.

Obwohl die EU ziemlich heterogen ist?

In der Digitalisierung kostet ja das nächste Stück nichts: Wenn Sie eine Software haben und noch jemanden anschließen, entsteht kein zusätzlicher Aufwand. Deswegen sind Skaleneffekte wichtig und in diesem Zusammenhang ein möglichst homogener Rechtsrahmen in Europa, der den Absatz großer Mengen erleichtert. EU-Kommissar Oettinger sieht das auch so, aber einzelne Länder haben da durchaus ihre eigene Agenda.

Wie geht es weiter nach dem IT-Gipfel?

Von den fünf Arbeitsgruppen der Plattform wird es konkrete Handlungsempfehlungen geben. Dabei geht es zunächst um Standardisierung. Aus der Plattform heraus wird es Vorschläge geben zum Thema Forschungsbedarf aus der Perspektive der Unternehmen. Wir reklamieren für uns, dass wir den Kunden, den Kundennutzen und die Kundenprozesse am besten beurteilen können. Für die anwendungsorientierte Forschung werden wir der Politik dann Vorschläge machen.

Und die Themen Recht und Sicherheit?

Es wird auch hier Empfehlungen geben, etwa dazu, wie Maschinen untereinander Verträge abschließen. Wenn man solche Dinge einmal klärt, erleichtert dies das Leben und die Implementierung von Technologien. Die Arbeit zum Thema IT-Sicherheit wird nicht aufhören. Zum Beispiel, wie sich Maschinen und IT-Systeme identifizieren. Und wir arbeiten weiter an der Datenbank, auf die vor allem kleinere Firmen zugreifen können. Alles in allem ist die Plattform ein kontinuierlicher Prozess. Industrie 4.0 ist Evolution und nicht Revolution.

Das Gespräch führte Alfons Frese.

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