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Société Générale

© AFP

Société Générale: Das Milliardenspiel

Ein Aktienhändler, der zu hoch pokerte - die Geschichte des Händlers Jérôme Kerviel erzählt von unbefriedigtem Ehrgeiz und laschen Kontrollen.

Jérôme Kerviel war übers Wochenende ans Meer gefahren. Nach Deauville, einem eleganten Ferienort, berühmt für seine Pferderennen und sein Casino. Am frühen Nachmittag des 19. Januar, einem Samstag, bekam er einen Anruf. „Wir brauchen ein paar Erklärungen“, sagte der Mann am Telefon, sein Chef bei Delta One, einer Handels-Abteilung der französischen Großbank Société Générale. Kerviel wurde zurück ins Pariser Büro zitiert. Er nahm den Zug und war drei Stunden später in der Zentrale der Bank.

Langsam fügt sich ein Bild zusammen. Das Bild eines kleinen Händlers, der unbemerkt den größten einzelnen Handelsverlust der Finanzgeschichte verursachte. Bisher unveröffentlichte Details seiner Geschäfte, Gespräche mit Bankmanagern, Staatsanwälten und Kerviels eigenen Anwälten zeigen einen Mann, der die Risiken kannte, aber glaubte, sie meistern zu können.

Kerviel kam am 19. Januar gegen 19 Uhr bei der Bank an. Er wurde ins Büro von Jean-Pierre Mustier geführt, ein früherer Fallschirmjäger, der heute die Investmentbanksparte der Société Générale leitet. Die Manager fragten Kerviel zunächst nach einem bestimmten Handelsgeschäft, das am Abend zuvor entdeckt worden war und große Sorgen in der Bank ausgelöst hatte: Ein Geschäft mit einem deutschen Broker-Haus, das die Bank scheinbar 1,5 Milliarden Euro gekostet hatte. Kerviel sagte zunächst kaum etwas dazu. „Er ist ein sehr stiller Mann“, sagt einer seiner Vorgesetzten.

Das Treffen dauerte bis in die Nacht. Wie Angestellte der Bank berichteten, gab Kerviel schließlich zu, dass das deutsche Geschäft ein Scheingeschäft war. Noch viel schlimmer: Es war eines von vielen Scheingeschäften, die Kerviel getätigt hatte, um seine wirklichen, hochriskanten Deals zu verschleiern.

Mustier und weitere Verantwortliche verhörten Kerviel bis drei Uhr früh. Dabei wuchs die Anspannung so stark, dass die Bankmanager fürchteten, Kerviel könne zusammenbrechen. Ein herbeigerufener Arzt riet, Kerviel für einige Stunden nach Hause zu schicken und am nächsten Morgen mit der Befragung fortzufahren, wie Insider berichteten.

Am Sonntag herrschte schließlich Gewissheit: Kerviel, ein kleiner Händler mit einem jährlichen Grundgehalt von etwa 50 000 Euro, hatte bei hochriskanten Wetten mehr Geld eingesetzt, als die gesamte Bank an der Börse wert war. Etwa 50 Milliarden Euro lagen auf dem Tisch – und der Roulette-Kreisel sollte sich schon in wenigen Stunden, bei Börseneröffnung am Montagmorgen, wieder drehen. Mustier beauftragte einen seiner besten Händler damit, Kerviels Wetten aufzulösen. Vier Tage später stand das Ergebnis fest: Ein Verlust von knapp 4,9 Milliarden Euro. Die Enthüllung löste einen Schock an den weltweiten Finanzmärkten aus.

Zahlreiche Quellen, darunter Jérôme Kerviels Aussagen, deuten darauf hin, welch ungesunde Mischung die Ursache dieses Debakels war: Der frustrierte Ehrgeiz eines Provinzstrebers und die Überheblichkeit seiner Vorgesetzten.

In seiner Aussage gibt Kerviel zu, die Regeln der Bank verletzt zu haben. Er spottet aber auch, die Bank habe ein wichtiges Zeichen übersehen: Er habe im vergangenen Jahr gerade mal vier Tage Urlaub genommen. „Das ist eine der obersten Regeln bei der internen Kontrolle: Ein Händler, der keinen Urlaub nimmt, will nicht, dass andere in seine Bücher schauen“, sagte Kerviel.

Der Sohn einer Friseurin und eines Metallarbeiters, aufgewachsen in einer Kleinstadt in der Bretagne , nahm bei der Bank einen der untersten Plätze im Handel mit Finanzderivaten ein. Aber er sehnte sich danach zu zeigen, dass er genauso gut war wie seine hoch angesehenen Kollegen.

Während Kerviel seinen Wert unter Beweis stellen wollte, nahmen die Bankoberen ihn und die anderen einfachen Händler der Delta-One-Abteilung kaum wahr. Sie waren damit beschäftigt, die Stars zu fördern – Händler mit Doktortiteln in Mathematik oder Astrophysik, die mit Hilfe komplexer mathematischer Modelle das große Geld für die Bank verdienten. Diese Händler hatten in der Regel französische Elite-Universitäten besucht. Kerviel dagegen hatte in Nantes und Lyon studiert – Universitäten aus der zweiten Reihe.

Selbst als die Bankmanager mit den ersten Beweisen für Kerviels dreiste Geschäfte konfrontiert wurden, „dachten wir nicht, dass so etwas möglich ist“, sagt ein hochrangiger Manager. „Ich fragte mich nur: Wer ist dieser Kerl?“

Kerviel hatte in der Bank zwei Aufgaben. Die erste bestand darin, Investmentprodukte zu vertreiben. Die zweite war das Wetten auf die Entwicklung europäischer Aktienmärkte: Rauf oder runter? Die rund 20 Händler, die in der Delta-One-Abteilung arbeiten, waren angewiesen, jede Wette auf steigende Kurse mit einer weiteren auf sinkende Kurse zu unterlegen. Die Differenz zwischen den beiden Wetten sollte dann den Gewinn bringen.

Kerviel begann nach einigen Monaten bei Delta One alles Geld in eine Richtung zu setzen, anstatt die Wette mit einem Gegengeschäft abzusichern. So zockte er etwa im Sommer 2005 auf einen Absturz der Aktienmärkte. Kurz danach attackierten islamistische Selbstmordattentäter den Londoner Nahverkehr – die Aktienkurse fielen. „Bingo, 500 000 Euro“, sagte Kerviel, als er die Episode den Ermittlern erzählte. Er sei „stolz und überrascht gewesen“, habe unbedingt weiter machen wollen. „Das ist ein Schneeballeffekt.“

In den nächsten 18 Monaten brach Kerviel immer wieder die Regeln der Bank, allerdings in begrenztem Ausmaß, wie er selbst und die Bank heute versichern. Ab Januar 2007 begann er mit dreisteren Wetten, und kam sogar dann damit durch, wenn er Geld verlor. „Es gibt keine wechselseitige Kontrolle bei der Société Générale“, sagte Kerviel den Ermittlern. Die Bank hält dagegen: Man habe Kerviels Gewinne und Verluste nur deshalb nicht bemerkt, weil er zum Schein Gegengeschäfte gebaut habe, die den Eindruck erweckten, seine Wetten seien abgesichert. Tatsächlich hätten sie aber gar nicht existiert.

Es gab Warnzeichen. Am 7. November 2007 schickte die Handelsaufsicht der Eurex, eine Tochter der Deutschen Börse, eine E-Mail an die Société Générale. Die Börsenbetreiber wollten wissen, warum Kerviel mit so großen Summen jonglierte. Kerviel erklärte, er wolle seine Strategien nicht gegenüber Wettbewerbern preisgeben. Auch eine weitere Nachfrage konnte er erfolgreich abschmettern.

Ende Dezember wies Kerviels Handelskonto 1,4 Milliarden Euro Gewinn auf – einen Gewinn, den er vertuschen musste, weil sonst aufgeflogen wäre, dass er die Regeln verletzt hatte. Er baute ein System von scheinbaren Gegengeschäften auf. Doch eines davon wurde ihm zum Verhängnis: Das angebliche Geschäft mit dem deutschen Broker. Weil die Bank Zweifel an der Kreditwürdigkeit des Brokers hatte, setzte sie das Alarmsystem in Gang. Am Abend des 18. Januar wurde Investmentchef Mustier informiert. Am nächsten Tag klingelte Kerviels Handy im Ferienort Deauville. Eine Woche später stellte er sich der Polizei.

© The Wall Street Journal – Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Stefan Kaiser

David Gauthier-Villars, Carrick Mollenkamp

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