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Wirtschaft: Stammtisch auf der Wartburg hegt ein kleines Wirtschaftswunder

EISENACH .Hoch über Eisenach erhebt sich die Wartburg wie ein Adler in seinem Horst.

EISENACH .Hoch über Eisenach erhebt sich die Wartburg wie ein Adler in seinem Horst.Die ehemalige Zufluchtstätte des Reformators Martin Luther gewährt jedem, der sie erklimmt, einen atemberaubenden Blick über den Thüringer Wald.Doch die Wartburg ist nicht nur für Touristen ein Muß: Auch die Spitzen der regionalen Wirtschaft und Politik lassen sich von dem Gemäuer inspirieren.Wenn der Wartburgkreis mit seinen 195 480 Einwohnern in elf Städten inzwischen als ostdeutsche Vorzeigeregion gilt, dann hat ein nicht alltägliches Gremium daran entscheidenden Anteil: Der Stammtisch auf der Wartburg."Wir wollen hier ein bißchen über den Tellerrand schauen und laden uns Gäste ein, die uns weiterbringen", sagt Klaus Lantzsch, Vorsitzender des Stammtisches und Geschäftsführer des Herstellers von Autoleuchten FER Fahrzeugelektrik GmbH, im Wappensaal des Gasthofes auf der Wartburg.Er untertreibt.Alle wesentlichen Entscheidungen für die Region werden hier diskutiert und auf den Weg gebracht.

Der Erfolg kann sich sehen lassen: Die Zahl der Beschäftigten in der Industrie stieg 1997 auf 12 784 in 117 Betrieben.Der gesamte Industrieumsatz erhöhte sich um 13,2 Prozent auf 4,9 Mrd.DM, dabei stieg der Umsatz je Beschäftigten von 356 000 auf 380 000 DM.Die Exportquote hat sich 1997 von 23,3 Prozent auf 30,4 Prozent erhöht.Auf der Wartburg sitzen alle wichtigen Entscheidungsträger an einem Tisch: Unter anderen der Eisenacher Oberbürgermeister Hans-Peter Brodhun (CDU), IHK-Geschäftsführer Sven Pirsig, der Leiter des Opel-Werkes in Eisenach, Michael Wolf, aber auch mutige Ost-Manager, die im Rahmen des Management-Buy-Outs ihre Betriebe übernommen und aufgebaut haben wie etwa Bernd Müller, Geschäftsführer der Umform- und Fügetechnik Eisenach GmbH.

Nach der Wende hatten die Eisenacher mit der Ost-Limousine "Wartburg" ein Auto, das nicht einmal mehr ihre Landsleute fahren wollten, bald danach keine Arbeit und kaum eine Chance für die Zukunft.Geblieben war das Gespür für Autos.Das Fachwissen von ehemals 10 000 Autobauern hat Opel zur Ansiedlung seines Montagewerkes bewegt, inzwischen eines der produktivsten Automobilwerke der Welt.Anfang 1990 bauten 9500 Beschäftigte bei den Automobilwerken Eisenach (AWE) 70 000 Wartburg im Jahr, heute fertigen 2000 Opel-Werker 180 000 Corsa und Astra.Auch das Ingenieurbüro Edag aus Fulda, das für Porsche, BMW, Opel und Mercedes Prototypen baut, lobt die Fähigkeiten der Metaller aus der ehemaligen Autoschmiede AWE."Die Leute hier können allein mit Holzkeil und Hammer aus einem Stück Blech ein Teil für einen Erlkönig fertigen", begeistert sich Edag-Chef Ewald Vollmer.

Doch all das Lob hilft den tüchtigen Autozulieferern entlang der A 4 nichts, wenn es um den nächsten Entwicklungssprung geht: Es fehlen weltgewandte Vertriebsleute, die sich auf dem glatten Parkett der Weltmärkte auskennen.Opel bezieht beispielsweise seine Beleuchtungsteile für den Corsa aus Spanien, obwohl FER nur einen Steinwurf entfernt ist.Da hilft es auch nicht, Werkleiter Wolf beim Stammtisch zu bearbeiten.Die Entscheidungen des "Global Sourcing" fallen eben nicht in Eisenach, sondern in der Europa-Zentrale von GM.Mehr Hoffnung gibt da das jüngste "Kind" des Stammtisches: In Schmalkalden soll nach dem Vorbild der Fachhochschule Reutlingen eine Exportakademie eingerichtet werden, um den Nachwuchs fit fürs Ausland zu machen.1999 soll das erste Semester beginnen.Bereits zum 1.Oktober startet die neue Berufsakademie in Eisenach.Auch an der Aufnahme des Flugbetriebs auf dem ehemaligen Militärflughafen Eisenach-Kindel haben die "Stammtischbrüder" gedreht und einen eigenen Förderverein gegründet.Inzwischen zählen sie jährlich 14 000 Flugbewegungen.

"Ich muß schnell sein", sagt Lantzsch.Wer in den Markt will, muß Mut zur unkonventionellen Wegen besitzen.Als ein BMW-Lieferant in Spanien bestreikt wurde, hatten die Bayern einen heiklen Auftrag für den Mittelständler FER, der 1997 mit 560 Beschäftigten einen Umsatz von 120 Mill.DM erzielte."Wir hatten drei Tage Zeit, die Werkzeuge aus Spanien zu holen, bei uns aufzubauen und montags zum Produktionsstart von BMW zu liefern", erinnert sich FER-Chef Lantzsch.Ein knapper Zeitplan, zumal am Sonntag für Brummis Fahrverbot gilt.Lantzsch charterte einen Obstlaster, weil der Transport verderblicher Ware vom Fahrverbot ausgenommen ist, und lud die Werkzeuge auf.Nicht ganz legal, aber dafür pünktlich gelangte die "leicht verderbliche Ware" nach Eisenach, und die Produktion lief Just-in-time an.BMW dankte mit Anschlußaufträgen.

"Wir bemühen uns um ein investitionsfreundliches Klima", sagt Oberbürgermeister Brodhun.Der heiße Draht zwischen Industrie, Verwaltung und Politik beschleunigt die notwendigen Prozesse.Eisenacher Unternehmer hospitieren auf Initiative des Stammtisches in der Verwaltung.Im Gegenzug kommen Behördenvertreter in die Unternehmen.Lokomotive der Entwicklung ist zweifellos die Autoindustrie, die über die Hälfte zum Industrieumsatz der Region beisteuert.Insgesamt arbeiten 7500 Beschäftigte bei Autobauern und Zulieferern.Erst mit Abstand folgen die Metaller (1859), Maschinenbauer (1490) sowie die chemische Industrie (1009).Wichtig für die Region ist auch der Tourismus mit 3500 Beschäftigten in 680 gastronomischen Betrieben mit rund 6000 Betten.Rund 70 Prozent der Flächen des Wartburgkreises sind landschaftlich geschützt.

Derzeit profitiert die Region von der guten Automobilkonjunktur.Die starke Abhängigkeit von einer Branche birgt aber auch Risiken im Falle der nächsten Krise."Unsere Unternehmen sind dann als relativ neue Zulieferer stark gefährdet", sorgt sich der Eisenacher Bürgermeister.Wirtschaftsdezernent Krauser ist zuversichtlichert: "Die Überlebenden der nächsten Autokrise werden aus Eisenach kommen."

MARTIN-W.BUCHENAU (HB)

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