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© Imago

Statistisches Jahrbuch: Ein Land auf 752 Seiten

Das neue Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes zeichnet ein Bild der Bundesrepublik in der Krise.

Sophie hat es geschafft. Sophie ist der beliebteste Vorname, den Eltern 2008 ihren Töchtern in Deutschland gegeben haben. Wahrscheinlich wächst sie in Nordrhein-Westfalen auf, dem bevölkerungsreichsten Bundesland. Wäre sie in Berlin zur Welt gekommen, hätte sich ihr Vater vermutlich am ehesten ein paar Monate Auszeit vom Job genommen, um ihr die Windeln zu wechseln. Haben Sophies Eltern Abitur, wird wohl auch sie später das Gymnasium besuchen. Dass sie ein oder gar mehrere Geschwister bekommt, ist dagegen kaum zu erwarten, der Trend geht zum Einzelkind. Womöglich lassen sich Vater und Mutter sogar scheiden, so wie derzeit mehr als jedes dritte Ehepaar. Einen Job finden wird Sophie vermutlich in einer Dienstleistungsfirma, etwa als Bürofachkraft, so machen es die meisten heute. An die Rente kann sie frühestens mit 67 Jahren denken. Danach wird sie aus heutiger Sicht wohl nach mehr als 82 Lebensjahren die Augen für immer schließen.

Ein deutsches Leben, eines von mehr als 82 Millionen in der Bundesrepublik. Und ein sehr typisches. Sophie ist Durchschnitt, die Normalität im Jahre 2008 – wenngleich eine Kunstfigur der Statistik. Sie ist das Produkt, an dem die 2700 Bediensteten des Statistischen Bundesamtes Tag für Tag feilen. Indem sie Zahlenkolonnen zusammentragen, Umfragen durchführen, Schätzungen vornehmen. Aus ihren Daten destillieren die Wiesbadener Experten in jedem Herbst das „Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland“. Am Mittwoch hat es die Behörde in Berlin vorgestellt.

Darin steht auf 752 eng bedruckten Seiten, wie die Deutschen und die Menschen anderer Herkunft hierzulande leben, nicht nur Sophie. Wo sie wohnen, was sie kaufen, wo sie arbeiten, wann sie Urlaub machen, was sie verdienen, wen sie wählen, wie krank sie sind, welche Länder ihnen Öl liefern. Statistik durchdringt das Leben in jedem modernen Industriestaat, vom Durchschnittsgeburtsgewicht über die Heiratsquote bis zum Sterberegister. Im gründlichen Deutschland ganz besonders.

Doch das Jahrbuch ist mehr als Zahlensalat. „Wer die Fakten kennt, kann in unserer Gesellschaft mitreden“, sagt Roderich Egeler, der Präsident des Amtes. Weniger Bedeutendes, etwa, dass die Bürger im vergangenen Jahr ein Drittel weniger Geflügel verspeist haben als noch 1999, dafür aber ein Drittel mehr Fertiggerichte. Aber auch das, was Gesellschaftsforscher Megatrends nennen: dass immer mehr Menschen in Teilzeitjobs arbeiten oder mit befristeten Verträgen. Dass es immer mehr Single-Haushalte gibt und immer weniger Familien. Dass die Zahl der Rentner enorm steigt. Und das Wirtschaftswachstum im Schnitt der Jahrzehnte immer weiter zurückgeht – von mehr als acht Prozent in den fünfziger Jahren auf gut ein Prozent in diesem Jahrzehnt.

Der Wandel von Demokratie und Gesellschaft, der sich zumeist nur in Stimmungen und Leitartikeln widerspiegelt, hier bekommt er einen Ausdruck, einen Wert. Zumal 2008 durch die Finanzkrise zum Jahr der Statistiken avanciert ist – mit entweder dramatisch abfallenden Kurven, etwa bei der Industrieproduktion, oder mit steilen Anstiegen, wie bei der Staatsverschuldung. Gerade in diesen Zeiten sind Fakten die Grundlage für Politik – und zugleich das Problem der Politik.

Für die Regierung, die sich gerade zusammenrauft, zeichnet das Jahrbuch ein Porträt des Landes, das sie zu übernehmen im Begriff ist. Zugleich können die unterlegenen Sozialdemokraten besichtigen, wie ihre angestammten Milieus zerfallen – dass der klassische, Vollzeit arbeitende Industriemalocher immer seltener wird, dass Traditionen vergehen und sich die Individualisierung Bahn bricht.

Aber auch Unterhaltsames und Skurriles haben die Statistiken zu bieten. So gab es 2007 in Berlin genau 100 Mastschweine mit mehr als einem Zentner Lebendgewicht. 28 von 100 Haushalten verfügen über einen Heimtrainer. Die Einnahmen des Bundes aus der Schaumweinsteuer sind trotz der Krise 2008 erstmals seit Jahren wieder gestiegen. Das ZDF sendete 2001 noch 437 abendfüllende Filme, 2008 waren es nur noch 384. Genau ein Mädchen absolvierte 2007 eine Ausbildung zum Bergmann. Zehn- bis Zwölfjährige wenden pro Tag im Schnitt genau vier Minuten auf, um ein Theater oder ein Konzert zu besuchen. Uneingeschränkt Erfreuliches ist ebenfalls zu finden – so hat sich die Zahl der Umweltstraftaten in den letzten 15 Jahren auf 16528 mehr als halbiert. Überhaupt ist ein Verbrechen überaus riskant, mehr als jede zweite Straftat wird hierzulande aufgeklärt.

„Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe“, soll Winston Churchill einmal gesagt haben. Den akribischen Datenmenschen, die das Land in Zahlen gegossen haben, muss dieses Bonmot fast beleidigend vorkommen. Treffender für das Wesen der Statistik ist der Witz, den Franz-Josef Strauß zu vorgerückter Stunde zu erzählen pflegte: Sitzen zwei Männer im Wirtshaus. Der eine vertilgt eine ganze Kalbshaxe, der andere trinkt zwei Maß Bier. Statistisch gesehen sei das für jeden eine Maß Bier und eine halbe Haxe, fuhr die CSU-Ikone fort. „Aber der eine hat sich überfressen, und der andere ist besoffen.“

Das Buch im Netz: www.destatis.de/jahrbuch

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