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Wirtschaft: Streit im Chemielabor

EU-Bürger sollen besser vor gefährlichen Substanzen geschützt werden – Industrie und Umweltlobby ringen um einen Kompromiss

Brüssel (lob). Das mehr als zweijährige Ringen um die künftige Chemiepolitik der Europäischen Union geht in eine neue Runde. Am Mittwoch legt die EU-Kommission ihren abschließenden Entwurf für eine Chemikalienrichtlinie vor. Ein ehrgeiziges Projekt haben sich Industriekommissar Erkki Liikanen und Umweltkommissarin Margot Wallström vorgenommen. Erstmals sollen tausende Substanzen auf den Prüfstand, deren Gefahr für Mensch und Umwelt bisher weitgehend unbekannt ist. Bevor die Richtlinie 2005 in Kraft treten kann, muss sie noch das Europaparlament und den Ministerrat passieren. Dort werden Industrie- wie Umweltlobby auf zahlreiche Nachbesserungen dringen.

Eine Neuregelung ist überfällig: Die Wirkung von rund 30000 in der EU verwendeter Chemikalien ist weitgehend unbekannt. Darunter sind zahlreiche Stoffe, die im Alltag eine große Rolle spielen, sei es in Kleidungsstücken, im Shampoo oder in Spielzeugen. Bisher trugen die Verbraucher und die nationalen Gesundheitssysteme die Kosten, wenn solche Substanzen Allergien oder Asthma auslösten. Wallström und Liikanen wollen nun erstmals die chemische Industrie für die Sicherheit der von ihr produzierten Stoffe in die Pflicht nehmen.

Durch aufwändige Tests und die Registrierung der Chemikalien bei einer neu zu schaffenden EU-Behörde sollen bis zum Jahr 2016 gefährliche Substanzen aus dem Verkehr gezogen werden. Die Chemiebranche, die sich im weltweiten Wettbewerb ohnehin geschwächt fühlt, sieht durch das System namens Reach eine gewaltige Kostenwelle auf sich zurollen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) beschwor bereits ein Schreckgespenst herauf: 1,7 Millionen Arbeitsplätze drohten durch die Brüsseler Pläne verloren zu gehen, warnte der BDI im September. So viele Menschen arbeiten europaweit in der gesamten Chemieindustrie.

Inzwischen ist die EU-Kommission der Branche entgegengekommen. Nicht zuletzt aufgrund des Drucks einer „großen Koalition“: Bundeskanzler Gerhard Schröder warnte Brüssel gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und dem britischen Premier Tony Blair vor zu harten Schnitten. Daraufhin legte die Kommission in der vergangenen Woche eine überarbeitete Kostenstudie für Reach vor. Danach „spart“ die Industrie gegenüber den bisherigen Vorschlägen mehr als zehn Milliarden Euro. Der Grund: Die Tests wurden deutlich abgespeckt. Insgesamt müssen nur noch 10000 Stoffe und damit ein Drittel der kritischen Substanzen auf ihre Gefahren für Gesundheit und Umwelt untersucht werden. Das würde die Konzerne in den kommenden elf Jahren 2,3 Milliarden Euro kosten, so die Kommission. Die weiterverarbeitenden Betriebe eingerechnet fielen maximal Kosten von 5,2 Milliarden Euro an.

Damit habe Brüssel die Vorschläge auf Druck der Industrie „weich gespült“, kritisieren Umweltschützer. Die Kosten für die Tests liegen nach ihren Angaben nur bei knapp einem Prozent des Jahresumsatzes der europäischen Chemiehersteller. „Das ist nach wie vor zu viel“, betont dagegen der Verband der Chemischen Industrie (VCI). Viele Stoffe, die aus dem Verkehr gezogen werden müssten, seien nur sehr teuer zu ersetzen. Brüssel beruft sich dagegen auf eine Weltbank-Studie, nach der durch eine bessere Kontrolle hoch giftiger Chemikalien jährlich bis zu 4500 Menschenleben gerettet werden könnten.

Die Rechnungen aller Seiten hätten ein „Geschmäckle“, sagt ein Industrievertreter. Er wünscht sich, dass Europaparlament und Rat die Unstimmigkeiten ausräumen. „Warum muss zum Beispiel selbst dann ein Test von Inhalationssubstanzen gemacht werden, wenn der Stoff gar nicht eingeatmet wird?“ Die Umweltschützer hoffen im Gegenzug, zumindest einige Schlupflöcher schließen zu können. So können Chemiefirmen nach der derzeitigen Vorlage auch Krebs erregende Substanzen weiter nutzen, solange sie eine „angemessene Kontrolle“ nachweisen. Dass die Richtlinie noch im Sinne der Umweltschützer abgewandelt wird, ist jedoch unwahrscheinlich. Nach einem Beschluss der europäischen Staats- und Regierungschefs haben im Rat diesmal nicht die Umwelt-, sondern die Wettbewerbsminister das letzte Wort.

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