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Wirtschaft: Stricken ist schick

Das Handarbeiten wird wieder geschätzt – als beruhigende, produktive Tätigkeit

Es herrscht eine angenehme Ruhe im Raum. Nur leise hört man von verschiedenen Arbeitsplätzen manschende, schmatzende Geräusche – und selbst die wirken entspannend. Anne Marung gibt hier und dort noch leise ein paar Tipps, ansonsten stellt sie der Kreativität ihrer Teilnehmer nichts in den Weg. Sie ist die Leiterin dieses Filzkurses der Volkshochschule (VHS) Pankow.

„Es ist wie bei einem Wollpulli, der mit zu viel Hitze, zu viel Reibung und dem verkehrten Waschmittel gewaschen wurde: Er verfilzt“, sagt sie, während einer ihrer Kursteilnehmer heiße Seifenlauge über eine Schicht Wolle schüttet. Sobald die Wolle dieses Gemisch aus Wasser und Seife in sich aufgenommen hat, fängt er an, sie zu kneten, zu walken und glatt zu streichen. Mehrere Male muss diese Prozedur wiederholt werden, bis die Wolle vollkommen verfilzt. Erst dann kann man den Filz weiter bearbeiten und daraus Pantoffeln, Hüte, Taschen und unendlich viele andere Sachen herstellen.

Die 23-jährige Katja hat den gesamten Vorgang bereits beendet und probiert ihre neue, grüne Filzmütze an. Sie sitzt gut. „Ich war auf der Suche nach der passenden Entspannung neben meinem Beruf“, erklärt sie die Gründe für ihre Kursteilnahme. „Mir gefällt es, am Ende ein selbst geschaffenes Produkt in den Händen zu halten.“ Dieses „enorme Erfolgserlebnis“ hebt auch die 38-jährige Christiane hervor, die gerade an einer Tasche für ihre Tochter walkt. Außerdem sei das Walken fast schon wie Ausdauertraining für die Arme.

Erst seit einem Jahr bieten viele Berliner Volkshochschulen Filzkurse an – und seitdem kann die steigende Nachfrage kaum gedeckt werden. „Das alte Handwerk des Filzens ist wieder total im Trend“, bestätigt Burkhard Steinke von der VHS Berlin-Mitte. „Die Kurse sind immer sofort ausgebucht.“ Aber auch die anderen Angebote im Bereich Textil seien in den letzten Jahren wieder sehr beliebt geworden.

Diesen Trend spürt auch Modedesignerin Sybille Hahn. Sie leitet die oft überfüllten Strick- und Nähkurse an der VHS-Mitte und freut sich schon seit einiger Zeit über immer mehr junge Leute, die diese Handarbeiten lernen wollen. „Modische, selbst geschneiderte Kleidung ist wieder in“, sagt Hahn. „Die meisten kaufen sich einen guten Stoff und möchten damit etwas Besonderes herstellen.“ Während man noch vor einigen Jahren für dieses Engagement von Freunden ein müdes Lächeln erntete und schon allein der Begriff „Handarbeiten“ eher altbacken klang, werde man jetzt für das eigene Schneidern bewundert, sagt Sybille Hahn. Viele ihrer Kursteilnehmer empfinden das Stricken und Nähen auch als beruhigend, einige sprechen sogar von Meditation.

Das bestätigt auch Sabine Reichert-Kassube vom Filz- und Keramikladen „Terra Lana“ in Friedrichshagen, der regelmäßig Filz- und Töpferkurse anbietet: „Zu unseren Kursen kommen überwiegend Frauen, die mitten im Beruf stehen und ein volles Leben haben. Sie wollen als Ausgleich etwas Entspannendes machen.“ Während der Stress im Berufsleben zunimmt und die Anspannungen steigen, suchen viele in ihrem Privatleben wieder nach Ruhe, Entspannung und dem Hauch einer Idylle. Die „Renaissance der alten Werte“ nennt das BAT Freizeitforschungsinstitut diesen Trend. Die Spaßgesellschaft war gestern, heute steht das Wohlfühlen im Vordergrund.

Dass Handarbeiten und Kunsthandwerk als Hobby wieder stark gefragt sind und bereits einen Trend-Charakter bekommen haben, hat noch andere Gründe. Dieses Gefühl, in relativ kurzer Zeit etwas Eigenes zu schaffen, das man in den Händen halten kann, ist einer davon. Bei kaum einer anderen Beschäftigung hat man dieses Erfolgserlebnis so unmittelbar – und im Berufsleben besonders selten.

Auch die Konzentration auf das richtige Schnittmuster, die Strick-Maschen, den zu modellierenden Ton oder die sich langsam verfilzende Wolle kann sich entspannend auf den gestressten Geist auswirken. Lästige Gedanken und Sorgen des Alltags verschwinden so für kurze Zeit. Hinzu kommt, dass dem Ausleben der eigenen Kreativität endlich einmal keine Grenzen gesetzt sind, während sich viele Menschen im täglichen Leben durch Regeln und Grenzen in Schach gehalten fühlen.

In Schach gehalten fühlten sich die Teilnehmer des Pankower Filzkurses sicherlich nicht. Ganz im Gegenteil: Nach zwei Tagen voller Entspannung, Kreativität und vielen Erfolgserlebnissen haben die acht Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer eine bunte Palette hübscher Kleidungs- und Gebrauchsgegenstände angefertigt. Stolz präsentieren sie ihre fertigen Produkte und begutachten das Ergebnis der anderen. Und dann ist sie wieder da: diese angenehme Ruhe. Wenn man in die Gesichter der Teilnehmer blickt, könnte man sie wohl auch Zufriedenheit nennen.

Infos über Volkshochschulen unter www.vhs-berlin.de. Auch Hobby- und Kunsthandwerksläden vermitteln Kurse oder bieten selbst welche an. Infos zu Handarbeiten und Kunsthandwerk im Internet unter www.creadoo.com, www.initiative-handarbeit.de, www.handarbeitsfrau.de, www.terralana.de

Vivien Leue

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