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Studium ohne Abitur: Die Seiten wechseln

Berufstätige können auch ohne Abitur studieren – indem sie praktische Qualifikationen nachweisen.

Tina Siebert gehört zu denen, die an der Freien Universität Berlin (FU) einen Studienplatz bekommen haben – obwohl sie nie Abitur gemacht hat. Seit einem Jahr studiert sie dort Jura. Grundlage dafür sind ihre Ausbildungen zur Sozialversicherungsfachangestellten und Justizfachwirtin sowie ihre zweijährige Berufserfahrung. Außerdem hat sie eine Fortbildung zur Wirtschaftsfachwirtin gemacht.

Die 27-Jährige ist eine jener Studierenden, die auf der Internetseite www.studieren-ohne-abitur.de vorgestellt werden. Die Seite wird vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) betrieben, Kooperationspartner ist der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Das Internetangebot soll beruflich Qualifizierte über ihre Studienmöglichkeiten informieren. Denn in den letzten Jahren hat sich das Verhältnis von universitärer und beruflicher Bildung stark gelockert. Immer mehr Menschen haben die Möglichkeit, wie Tina Siebert auch ohne Abitur einen Studienplatz zu bekommen. Politik und Wirtschaft hoffen darauf, dass diese Entwicklung auch dem Fachkräftemangel entgegenwirkt.

Um den Übergang zwischen Beruf und Hochschule durchlässiger zu machen, hat die Kultusministerkonferenz sich 2009 darauf geeinigt, den „Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung“ zu verbessern. Diese Richtlinien waren rechtlich zwar nicht bindend, dennoch haben viele Bundesländer den Zugang inzwischen erweitert. Das Land Berlin hat die Studienmöglichkeiten für Berufserfahrene 2011 nochmals ausgedehnt. Der Paragraph 11 des Berliner Hochschulgesetzes legt fest, dass zum Beispiel Absolventen einer Aufstiegsfortbildung nach den Bestimmungen der Handwerksordnung oder des Berufsbildungsgesetzes ein grundständiges Studium ihrer Wahl an einer Hochschule aufnehmen können. Gleiches gilt nach dem Besuch einer Fachschule oder einer Fortbildungsmaßnahme im Gesundheitswesen, dem sozialpflegerischen oder pädagogischen Bereich.

Die fachgebundene Hochschulreife ermöglicht ein Studium, das starke Bezüge zum erlernten Beruf aufweist. Sie erhalten Menschen, die eine mindestens zweijährige Berufsausbildung abgeschlossen haben und in diesem erlernten Beruf mindestens drei Jahre gearbeitet haben. Wer zwar eine fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung hat, aber ein Studium in einem anderen Bereich aufnehmen will, steht ebenfalls nicht vor verschlossenen Türen, muss aber eine Zugangsprüfung absolvieren.

Generell gilt: Berufserfahrene, die ein Studium aufnehmen möchten, sollten sich direkt an den Hochschulen beraten lassen – und sich erkundigen, welche individuellen Zugangsvoraussetzungen es dort gibt und wie hoch die Vorabquote für Berufserfahrene ohne Abitur ist. An der FU und der Humboldt-Universität Berlin (HU) liegt diese Quote bei acht Prozent, an der Beuth-Hochschule für Technik zum Beispiel bei fünf Prozent. Lisa Rüter berät dort seit September „Paragraph-Elfer“, die sich für ein Studium interessieren. Für das Wintersemester haben sich 110 Berufserfahrene beworben. Besonders begehrt seien bei den Interessenten die ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge, aber auch das Studium der Lebensmitteltechnologie, für das sich zum Beispiel Bäcker, Fleischer oder Brauer interessieren. Wer berufsbegleitend studieren möchte, kann an der Beuth-Hochschule etwa die Online-Studiengänge in den Fächern Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftsingenieurwesen belegen. Für viele sei es allerdings ein ganz bewusster Schritt, sich vollkommen auf die Uni zu konzentrieren. „Es ist beeindruckend, mit welcher Zielstrebigkeit diese Studierendengruppe ihr Studium angeht“, sagt Rüter. Die Hochschule hat für Berufserfahrene ohne Abitur spezielle Vorbereitungskurse konzipiert. „Oft fehlen den Bewerbern Grundlagen in Mathematik, Physik oder Chemie.“ In den Kursen geht es aber auch um Lerntechniken und Zeitmanagement.

„An der Alice-Salomon Hochschule haben im vergangenen Sommersemester 185 Berufserfahrene ohne Abitur studiert“, sagt ASH-Pressesprecherin Sandra Teuffel. Diese Zielgruppe ist familiär und finanziell oft sehr stark eingebunden, und profitiert deshalb von Möglichkeiten des Fernstudiums und des Blended Learning. Die ASH hat ein berufsbegleitendes internetbasiertes Fernstudium der Sozialen Arbeit im Angebot, außerdem einen berufsintegrierten Studiengang zur Erziehung und Bildung im Kindesalter. Diese Studiengänge würden im Rahmen der Vorabquote von 20 Prozent stark von den Bewerbern ohne Abitur angenommen. Zu den Zugangsvoraussetzungen für diese Gruppe gehöre unter anderem ein Motivationsschreiben.

Nach Informationen des CHE entscheidet sich der größte Anteil der Nichtabiturienten für die Studienfächer Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Unter den 12 000 beruflich qualifizierten Studienanfängern haben 2011 fast die Hälfte (44 Prozent) eines dieser Fächer gewählt. Danach folgen die Sprach- und Kulturwissenschaften, die Ingenieurwissenschaften, Mathematik und Naturwissenschaften sowie Humanmedizin und Gesundheitswissenschaften.

Damit liegt auch die Jurastudentin Tina Siebert im Trend. Finanziell gefördert wird die angehende Juristin durch ein Aufstiegsstipendium der Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung (SBB). Das Programm unterstützt Berufstätige mit und ohne Abitur bei der Finanzierung ihres Erststudiums. Vollzeitstudierende erhalten monatlich 670 Euro und zusätzlich 80 Euro Büchergeld. Außerdem wird für Kinder unter zehn Jahren eine Betreuungspauschale bezahlt: 113 Euro für das erste Kind, 85 für jedes weitere. Die Förderung ist einkommensunabhängig. Studierende, die sich für ein berufsbegleitendes Studium entscheiden, können jährlich mit 2000 Euro unterstützt werden (siehe Infokasten).

Das Aufstiegsstipendium hat neben den finanziellen Zuwendungen auch noch einen weiteren Vorteil: Stipendiaten mit einer zweijährigen Berufsausbildung müssen keine drei, sondern lediglich zwei Jahre Berufserfahrung mitbringen, um ein Studium aufzunehmen. Von dieser Regelung hat auch Tina Siebert profitiert. Sie möchte sich später übrigens auf das Arbeitsrecht spezialisieren.

Mehr im Internet:

www.studieren-ohne-abitur.de

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