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Es braucht Zeit. Meist sind es Frauen, die die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger übernehmen und dabei beruflich zurück stecken. Ein gutes soziales Netzwerk und ein regelmäßiger Ausgleich erleichtern die Doppelbelastung. Foto: dpa

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Wirtschaft: Täglich eine Doppelschicht

Wer arbeitet und Angehörige pflegt, braucht Unterstützung. Doch viele Unternehmen blenden das Thema immer noch aus. Und lassen ihre Mitarbeiter mit dem Problem allein.

Andrea Dieth hatte endlich wieder einen Vollzeitjob, ihre Kinder standen kurz vor dem Abitur, ihr Lebensgefährte war selbstständig und beruflich viel unterwegs. „Alles war im Gleichgewicht“, sagt die 44-Jährige, die ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Bis ihr Partner nach einem schweren Unfall monatelang lang nicht laufen kann und auf ihre Hilfe angewiesen ist. Sie bittet den Chef darum, ihre Stundenzahl zu reduzieren, doch in dem kleinen Unternehmen gibt es niemanden, der ihre Aufgaben übernehmen kann. „Außerdem war ich noch nicht lange im Betrieb und hatte nur einen befristeten Vertrag.“ Der Vorgesetzte zeigt keinerlei Verständnis. Denn er habe sie auch deshalb eingestellt, weil ihre Kinder fast erwachsen seien – und sie so nicht am Arbeiten hinderten. Und nun so etwas. Schließlich springt die Schwester ihres Partners ein und übernimmt einen großen Teil der Pflege. Der Fall liegt einige Jahre zurück, doch für viele Arbeitnehmer ist es trotz neuer Regelungen noch immer schwierig, Job und Pflege miteinander zu vereinbaren.

Das Zentrum für Qualität in der Pflege hat im Januar eine Umfrage veröffentlicht, der zufolge zwei Drittel aller befragten Personaler weder akuten noch künftigen Handlungsbedarf sehen, „pflegenden Angestellten die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zu erleichtern“. Außerdem hätten sich bislang nur neun Prozent der Personalchefs mit dem 2012 eingeführten Familienpflegezeitgesetz (siehe Kasten) beschäftigt. Dabei leben allein in Berlin rund 170 000 Menschen, die einen Angehörigen pflegen.

Das Projekt „Hilfe für Helfer“ der Catania gemeinnützige GmbH bietet bundesweit eine kostenfreie psychologische Online-Beratung zum Thema an. 80 Prozent der Ratsuchenden sind Frauen – die immer noch den größten Teil der Pflege übernehmen. „Die Angehörigen melden sich meistens dann, wenn sich eine akute Pflegesituation ergeben hat“, sagt Imke Wolf, die Leiterin der Beratungsstelle. Oder, wenn die Pflege nicht mehr mit anderen Anforderungen zu vereinbaren sei. Jeder Fall müsse individuell betrachtet werden. „Wir erklären, welche gesetzlichen Regelungen es gibt, etwa, dass man im Akutfall bis zu zehn Tage Urlaub nehmen und sich bis zu sechs Monate lang freistellen lassen kann.“ Ein Gehalt bekommt man in dieser Zeit zwar nicht, aber dafür wird einem der Arbeitsplatz ein halbes Jahr lang freigehalten – vorausgesetzt, das Unternehmen hat mindestens 15 Mitarbeiter. Die Idee der Familienpflegezeit findet Imke Wolf im Prinzip gut – sie müsse aber weiter überarbeitet werden, bislang bestehe ja noch kein Rechtsanspruch.

Wenn ein Angehöriger pflegebedürftig wird, müssen oft schnell sehr viele Entscheidungen getroffen und ein Betreuungsnetz aufgebaut werden. „Betroffene sollten ihre Chefs so früh wie möglich auf die eigene Situation aufmerksam machen und sich bei Schwierigkeiten Unterstützung holen, zum Beispiel durch höhere Vorgesetzte oder den Betriebsrat.“ Sie sollten auch im Kollegenkreis nach Unterstützung suchen – und nach Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind.

Inzwischen bittet die Catania CmbH auch ein Seminar für betroffene Mitarbeiter an. „Wer Pflege und Beruf miteinander vereinbaren will, schafft das nicht alleine, er braucht ein Netzwerk“, sagt die Diplom-Psychologin. Wenn Angehörige nicht nur die Organisation, sondern tatsächlich die Pflege übernehmen, sollten sie eine Familienkonferenz einberufen, auf der verschiedene Aufgaben verteilt werden. „Die Pflegenden müssen von Anfang an darauf aufpassen, dass sie sich nicht überfordern und sich regelmäßig Zeit für sich selbst nehmen.“

Darauf möchte auch die zweite „Woche der pflegenden Angehörigen“ aufmerksam machen, die am morgigen Montag beginnt und bis zum 29. September dauert. Die Aktionswoche soll pflegende Angehörige sichtbar machen. „Einige von ihnen werden am morgigen Montag für ihr Engagement ausgezeichnet“, sagt Frank Schumann. Er leitet die Fachstelle für pflegende Angehörige, die es seit drei Jahren gibt. Prekäre Arbeitsverhältnisse machten es vielen Berufstätigen noch schwerer, Job und Pflege miteinander zu vereinbaren. „Außerdem kann man nie voraussehen, wie lange eine Pflegephase dauert.“

Deshalb hält er auch die Familienpflegezeit für kein probates Instrument, denn die Mitarbeiter müssten sich verpflichten, nach zwei Jahren wieder in Vollzeit zurück ins Unternehmen zu kommen. „Dabei lässt sich doch nicht voraussagen, wie es dem Angehörigen nach zwei Jahren geht.“ Zudem sei es je nach Einkommen sehr schwierig, plötzlich auf ein Viertel des Gehalts zu verzichten. Mit Schumanns Beobachtung deckt sich die Tatsache, dass dieses Angebot laut einer Stellungnahme des Familienministeriums in den 18 Monaten kaum abgerufen wurde. Die Zahl der Anträge lag unter 200.

Schumann bedauert, dass viele Arbeitgeber nicht erkennen, „was für ein Pfund diese Mitarbeiter sind“. Wer die Pflege eines Angehörigen übernehme, zeige damit hohe soziale Kompetenz. Flexible Lösungen wie die Möglichkeit, einen Großteil der Arbeit von zu Hause aus zu erledigen, könnten bei der Vereinbarkeit helfen. Und dafür sorgen, dass die Mitarbeiter dem Unternehmen in Loyalität verbunden bleiben – was gerade in Zeiten des Fachkräftemangels eine immer wichtigere Rolle spielt.

Vorbildlich findet Schumann etwa das Engagement der Berliner Stadtreinigung (BSR). Dort gibt es einen Ansprechpartner, an den sich betroffene Angehörige wenden können. Ähnliche Angebote gibt es zum Beispiel auch bei Siemens. Das Unternehmen hat für Mitarbeiter und Angehörige eine Vortragsreihe zur Pflege älterer Menschen konzipiert, später wurde daraus eine Schulung für Angehörige von Demenzkranken. Die Teilnehmer wiederum haben eine Selbsthilfegruppe gebildet. Die Berliner Gasag richtet ihren Mitarbeitern bei Bedarf Home-Office-Arbeitsplätze ein und bietet ihnen die Möglichkeit, eine „vollzeitnahe“ Teilzeitregelung zu finden. Außerdem kooperiert das Unternehmen mit einem Familienservice, der auf Wunsch nach geeigneten Pflegeplätzen sucht.

Die Geschichte von Andrea Dieth hatte übrigens trotz allem ein Happy End: Ihr Mann konnte nach einem Vierteljahr in seinen Beruf zurückkehren, und auch die mittlerweile 50-jährige Architektin hat eine neue Stelle gefunden: Bei einem familienfreundlichen Unternehmen, in dem auch viele Kollegen den Beruf, Familie und Pflege unter einen Hut bekommen müssen – auch ihr Chef.

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