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Wirtschaft: Thea Mundt

Geb. 1910

Eine eigensinnige Dame. Michael Schumacher war der Held ihrer alten Tage. Sie feierte gerade ihren 35. Geburtstag, als sie zum letzten Mal Post aus Kattowitz bekam. „Nun ist ja zur Zeit hier im Osten so allerhand los“, schrieb Theas Mann Alfred im Januar 1945 auf einem dünnen Stück Papier. Handschuhe fehlten ihm, in Polen im Januar, „hoffentlich wird es nicht zu kalt“. Ein Paket mit Schnaps, Fleischschmalz und Kaffee hatte er ihr zum Geburtstag nach Berlin geschickt: sein letztes Lebenszeichen.

Sie war 67 Jahre alt, als sie wieder einen Brief erhielt, 32 Jahre später, diesmal vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Alfred Mundt, vermisst seit 1945, meldet das Gutachten 1977, ist vermutlich in den sowjetischen Angriffen auf das oberschlesische Industriegebiet gefallen . Gefunden hat man seine Leiche nie.

Thea Mundt war eine von 16 Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen Angehörigen als vermisst gemeldet hatten. Ungewissheit – damals ein Massenschicksal. Vielleicht dachte sie deshalb: Was soll man darüber groß reden?

Jedenfalls erzählte sie nicht gern von früher, obwohl sie ihre Erinnerungen sorgsam ganz unten im Schrank aufbewahrte: die Liebesbriefe von der Ostsee, die blassgrüne Schachtel mit dem Brautschleier und der weißen Fliege ihres Bräutigams. Sein Foto stand lebenslang auf ihrer Anrichte. Aber sie sagte nie: „Heute wäre sein Geburtstag gewesen“ oder „Ach, unser Hochzeitstag“. Sie schwieg. Sie erzählte Kindheitsgeschichten, am liebsten die von dem Ziegenbock, der sie als kleines Mädchen morgens zur Schule brachte und mittags wieder abholte, der treue Gefährte, um den sie jedes Kind in Lichterfelde-West beneidete. Sie sehnte sich, und zwar ziemlich beharrlich, nach der Idylle von vor vielen Jahren.

Fotos aus der Jugend zeigen sie lachend auf dem Fahrrad. Sie war der Spross einer Familie, die alles, was Räder hatte, liebte. Ihr Vater, der biedere Standesbeamte aus Charlottenburg, fuhr noch als älterer Mann Motorrad, ihr Bruder war ein graziler Kunstradfahrer. Auf anderen Bildern lenkt Thea mondän gekleidet einen schicken Zweisitzer. Da war sie schon verheiratet und „Frau Brotfabrikantin“. Gattin von Alfred Mundt, dessen Lieferwagen mit der Aufschrift „Mundts Landbrot“ durch alle Bezirke der Stadt fuhren und die Tante- Emma-Läden belieferten.

Ihre Ehe, auch das ließ sich später schlecht erzählen, dauerte genau so lang wie das Dritte Reich, von 1933 bis 1945. Im Standesamt trug sie einen eleganten, dunklen Mantel mit Pelzkragen und einen gewagten, schräg sitzenden Hut – für die gelernte Putzmacherin eine Selbstverständlichkeit. Ihr Bräutigam war ein gut aussehender, junger Konditormeister aus Stralsund. Sie liebte ihn wohl, schwanger war sie jedenfalls schon bei der Hochzeit. Den kleinen Sohn musste sie oft zu ihrer Mutter geben, denn nach der Heirat hieß es: arbeiten. Ihr Mann stand schon morgens um vier in der Backstube, sie kümmerte sich den ganzen Tag um die Verwaltung.

Dafür hatten sie keine Geldsorgen, die Geschäfte liefen gut. Beide liebten Automobile und fuhren jeder eins. Bis 1941 die Fabrik in der Gesellschafterstraße wegen des Krieges geschlossen werden musste und 1944 mit einem Bombenvolltreffer zerstört wurde. Thea floh mit ihrem Sohn nach Dahme, ihr Mann musste sich als Soldat um die Nahrungsversorgung der Armee an der Ostfront kümmern.

Wie lange sie noch Hoffnung hatte, dass ihr Alfred zurückkehren könnte, wie viele von den 32 Jahren sie wartete? Sie hat es nie erzählt. Stoisch ertrug sie die Ungewissheit. Die Entschädigung für die zerbombte Brotfabrik reichte nach dem Krieg nur für ein bescheidenes Leben in Wedding. Doch nie hätte sie wieder geheiratet. Es gab ja ein männliches Wesen in ihrem Leben: ihren Sohn. Für ihn lebte sie. Ihn umsorgte sie. Sie schlug sich durch als Fahrerin für die Alliierten, verkaufte Mäntel und Pullover bei C&A. Auch als er schon längst erwachsen war, saß der Sohn oft bei ihr am Mittagstisch: grüne Heringe, Kartoffelpuffer, Gänsebraten gab es da. Andere Frauen hatten es da schwer. „Ich wäre so gern für ihn gegangen“, sagte sie voll Bitterkeit, als auch er noch vor ihr starb.

Jedes Jahr im Mai fuhr sie nach Bad Steben zur Kur, in das „Hotel zur Post“. So knauserig sie war, das gönnte sie sich. Und die Formel 1 im Fernsehen: Michael Schumacher war der Held ihrer alten Tage. Bis 80 war sie ja selbst noch Auto gefahren.

Sie war eine eigensinnige alte Dame und gewöhnt an die Einsamkeit. Zum Schluss sprach sie am liebsten mit ihren Stofftieren. Die bereiteten keine Probleme, wenn sie mal wieder mit dem Hörgerät nicht klar kam. Wenn ihr die Enkeltochter einmal über die Hand streichelte, schaute sie verwundert hoch. So lange hatte das niemand getan.

Kirsten Wenzel

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