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Abzug. Der Stammsitz von Herlitz in Tegel.

© dapd

Exklusiv

Umzug nach Falkensee: Traditionsunternehmen Herlitz verlässt Berlin

Briefe schreiben wird immer weniger zeitgemäß, Smartphones ersetzen Notizblöcke. Der Schreibwarenhersteller Herlitz muss sich angesichts dieses Kulturwandels neu erfinden. Klar ist: 2013 verlässt die Verwaltung des Berliner Traditionsunternehmens seinen Stammsitz.

Dass die Vorstellung der Produktneuheiten von Herlitz vor ein paar Tagen im Keller der Tegeler Zentrale stattfand, ist natürlich ein Treppenwitz der Unternehmensgeschichte. Ausgerechnet im Keller. Dort, wo viele das Berliner Traditionsunternehmen seit geraumer Zeit verorten. „Die sind doch tot“, hört man mitunter von Analysten, wenn man sie nach dem börsennotierten Schreibwarenhersteller fragt, und verspricht, ihre Namen nicht zu nennen.

Tot? Nicht wirklich. Rund 3500 Herlitz-Produkte finden sich nach wie vor in den Läden. Aber es stimmt auch, dass die Berliner seit der überstandenen Insolvenz kurz nach der Jahrtausendwende noch nicht zurück zu alter Größe gefunden haben. Weder die Übernahme durch den Finanzinvestor Advent im Jahr 2005 brachte die Wende noch der Verkauf an den Konkurrenten Pelikan vier Jahre später. 2010 stand unter dem Strich ein Minus von rund 3,5 Millionen Euro, 2011 waren es knapp 10,7 Millionen. Auch der Quartalsbericht für den Zeitraum Januar bis September 2012 gab kürzlich nicht gerade Anlass zur Euphorie: „Das Periodenergebnis nach Zinsen und Steuern ist in der Summe zwar negativ, fällt aber im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres ebenfalls besser aus“, hieß es in einer Mitteilung. Genaue Zahlen gab es nicht. Aber immerhin: Die Richtung scheint zu stimmen. Für Herlitz-Marketing-Chef Oliver Windbrake sind all das jedoch die normalen Begleiterscheinungen der laufenden Neuausrichtung, bei dem sich das Unternehmen nach und nach von unlukrativen Bereichen trennt. „Wenn Sie eine neue U-Bahn bauen, dann müssen sie auch erst mal die komplette Straße aufreißen, und alles sieht schlimm aus, bevor es dann funktioniert.“

Der Kampf um Kunden geht derweil weiter. Power-Point-Folie nach Power- Point-Folie mit Bildern von neuen Produkten wirft Windbrake an die Wand: Sammelmappen mit Fotos von Früchten, Blöcke mit „Hobbit“- und Smiley-Motiven, Schulranzen und -taschen in allen Größen: blau und mit Kampfrobotern für die Jungs, rosa und mit Schmetterlingen für die Mädchen. Auch ein paar clevere Innovationen sind dabei: ein Spitzer, dessen Spanauffangbox nicht mehr abfallen kann, oder eine Kombination aus Gummiband und Stiftehalter, die man um Bücher oder Schreibblöcke spannen kann.

Das alles wurde vorab mit den Verbrauchern ausgiebig getestet, sagt Windbrake. Seit ein paar Jahren betreibe Herlitz umfangreichere Marktforschung. Mit Testgruppen, Beobachtern hinter Spiegelglas und allem, was dazugehört. „Das kostet natürlich, aber die Erfolge im Markt sind seitdem deutlich gestiegen.“

Immer wieder spricht Windbrake vom Design. Viele Produkte im Neuheitensortiment zitieren die Farb- und Formsprache aktueller Modemagazine. 2013 wird Herlitz offizieller Ausrüster der Berliner Fashion Week. „Wir wollen die Marke sein, die den Bauch anspricht und für Freude steht“, sagt Windbrake, was ein Hinweis darauf gibt, wie das Nebeneinander von Pelikan und Herlitz in Zukunft aussehen könnte. „Andere Marken werden vielleicht von Lehrern empfohlen“, sagt er. „Wir wollen diejenigen sein, die insbesondere von den Kinds cool gefunden werden.“

Fast alle neuen Produkte in der mehr als drei Stunden dauernden Präsentation richten sich deshalb auch an Schüler und Studenten. „Wir machen heute ungefähr zwei Drittel des Umsatzes im Bürobereich und etwa ein Drittel mit Schulprodukten“, sagt Vertriebsleiter Daniel Frankenberg, kurze Haare, schmale Krawatte, in einer Kaffeepause. Wichtiger als der Nachholbedarf sei aber die ungeheure Markentreue der Kinder. Wer früh mit Herlitz anfängt, greift auch später zu, ist die Hoffnung. Dabei brüstet sich das Unternehmen schon heute mit seinem Namen. „Bei Umfragen haben wir einen Bekanntheitsgrad von bis zu 95 Prozent“, sagt Frankenberg und scherzt: „So wie Angela Merkel.“

Die gesamte Branche sieht sich mit einem Kulturwandel konfrontiert

Wie die Kanzlerin strebt auch Herlitz ins Zentrum der Gesellschaft. „Wir sehen uns als die Marke der Mitte“, sagt Frankenberg, was er vor allem am Preis festmacht. Qualitativ lägen sie deutlich darüber. Eine fertige Strategie gebe es allerdings noch nicht, heißt es, was der Hauptgrund für die zögerliche Unternehmenskommunikation sei. Diverse Interviewanfragen wies Herlitz in den vergangenen Jahren ab. Hier, zwischen bunten Taschen, Federmäppchen, Bleistiften und Designerfüllern redet der Manager aber plötzlich Klartext. Die Branche sei derzeit mit einem Kulturwandel konfrontiert. „Der durchschnittliche Deutsche bekommt im Jahr zwar 220 Briefe, schreibt aber selbst nur noch vier“, sagt Frankenberg. Briefe schreiben sei für viele eine antiquierte Kommunikationsform. Bevor Herlitz 2009 die Briefumschlagfertigung verkaufte, habe sich der Umsatz des gesamten Marktbereichs binnen sechs Jahren halbiert. „Es ist schwer, aus einem Briefumschlag eine Marke zu machen“, gibt Frankenberg zu. Aus den Büros verschwinden die Hängeordner, das Smartphone ersetzt den Notizblock. Auch wie in Zukunft die Schule aussieht, wisse niemand. „Vielleicht schreiben Schüler in 20 Jahren gar nicht mehr mit Stiften, sondern auf Pads.“

Parallel gilt es, den Vertrieb neu zu organisieren. „2013 wird erstmals Amazon in der Top drei unserer Kunden für Ranzen sein“, sagt Frankenberg, und die Schüler erreiche man zunehmend besser über Social Media. Das Hauptproblem sei aber auch gar nicht die Marke Herlitz selbst, die laufe, sondern die Altlasten, die man nach und nach abstößt. Zuletzt stellte Herlitz die Produktion für andere Hersteller, das sogenannte „Private Label“-Geschäft ein. Diverse andere Sparten stehen auf dem Prüfstand. Selbst der Gründungsstandort Berlin ist betroffen. 2013 soll der angemietete Verwaltungssitz, wo heute 258 Leute arbeiten, zum größten Teil von Tegel auf das betriebseigene Fertigungsgelände im brandenburgischen Falkensee umziehen, wie eine Sprecherin dem Tagesspiegel sagte. „Ziel ist es, die Produktion und Organisation an einem Ort zu bündeln.“ Unter anderem soll jedoch eine Kreativabteilung in Berlin beheimatet bleiben. Wie groß diese sein und welche Aufgaben sie genau haben wird, ist allerdings noch unklar. Arbeitsplätze sollen durch den Umzug jedenfalls nicht verloren gehen.

Was manchem als großer Findungsprozess erscheint, weckt bei anderen große Hoffnungen. Bei Matthias Werner zum Beispiel. Der Bad Homburger Rechtsanwalt hält inzwischen knapp über fünf Prozent der Herlitz-Aktien, was ihn, nach Pelikan, die inzwischen rund 70 Prozent kontrollieren, zum zweitgrößten Einzelaktionär des Unternehmens macht. Auch wenn heute kaum mehr ein Analyst die Aktien, die Mitte der 1990er Jahre einmal mehr als 200 Euro kosteten und heute bei 1,80 Euro herumdümpeln, auf dem Zettel hat, glaubt Werner, dass das Papier klar unterbewertet sei. Das Herlitz-Revival stehe kurz bevor, ist er sicher. Und kauft weiter. Am kommenden Dienstag ist Werner in Berlin. Auf einer außerordentlichen Hauptversammlung soll der Nennwert der Aktie von derzeit 4,26 Euro auf einen Euro herabgesetzt werden. Ein buchhalterischer Vorgang, um das Eigenkapital mit den in der Bilanz enthaltenen Verlusten zu verrechnen. „Dann können künftige Gewinne ausgeschüttet werden“, sagt Werner.

Von Dividenden will bei der Präsentation allerdings noch niemand sprechen. „Den Weg, den wir gehen müssen, haben wir zur Hälfte geschafft“, schätzt Falkenberg. Anfang 2013 sei man wohl bereit, mit einer Strategie an die Öffentlichkeit zu gehen.

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