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Wirtschaft: Ungezählte Reserven

Es gibt rund zwei Millionen Arbeitslose mehr, als die Statistik der Arbeitsagentur ausweist

Berlin – Für Frank-Jürgen Weise dürfte heute einer der schönsten Tage sein, seitdem er auf dem Chefsessel der Bundesagentur für Arbeit (BA) sitzt. Die Arbeitslosenzahlen, die er präsentieren wird, dürften für freundliche Gesichter sorgen. Im April waren 3,9 Millionen Menschen ohne Arbeit – noch niedriger lag die Zahl zuletzt im Oktober 2002. Doch die offizielle Statistik zeigt nicht die ganze Wahrheit: Tatsächlich gibt es gut zwei Millionen Jobsuchende mehr – trotz des starken Aufschwungs. Das ist das Ergebnis einer Berechnung der unabhängigen Stiftung Marktwirtschaft, die dem Tagesspiegel vorliegt. „Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist nicht so gut, wie sie auf den ersten Blick aussieht“, sagt Guido Raddatz, der Arbeitsmarktexperte der Organisation. „Es gibt ein riesiges Defizit an Arbeitsplätzen, das aber durch die Fördermaßnahmen der BA versteckt ist“, bemängelt auch Wilhelm Adamy, Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).

Schuld ist die Zählweise der BA. Denn nicht jeder, der arbeitslos ist, wird von der Behörde auch so registriert. So fallen etwa alle Arbeitslosen, die in einem Arbeitsmarktprogramm stecken, aus der Datenbasis heraus. Das waren im März insgesamt 329 000 Menschen. Waren früher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eines der beliebtesten Statistik-Korrektive, sind es heute die Ein-Euro-Jobs. Fast 288 000 Menschen fegten Bürgersteige oder sammelten Müll in Parks. Sie haben zwar keine reguläre Arbeit, sind aber immerhin beschäftigt – und müssen nicht im ersten Stellenmarkt untergebracht werden. In Ostdeutschland kommt nach Schätzungen des DGB derzeit auf jeden regulären Job eine geförderte Stelle.

Nicht mitgezählt werden auch die, die sich mit BA-Hilfe weiterbilden lassen, das waren im März knapp 206 000 Menschen: Sie müssen nicht vermittelt werden, solange sie in Kursen lernen, wie sie zum Beispiel eine Bewerbung schreiben.

Zudem gibt es Tausende, die nur mit Hilfe von Zuschüssen der Arbeitsagentur zu einem Job gekommen sind. So zahlt die BA Unternehmern Eingliederungszuschüsse, wenn sie einen Erwerbslosen einstellen. Oder sie unterstützt Existenzgründer. Insgesamt kommen so fast 332 000 Fälle zusammen, die zu den Beschäftigungslosen gezählt werden müssten, striche man ihre Subventionen. Noch größer ist die Gruppe derer, die gar nicht mehr arbeiten will. Mehr als 485 000 Bürger freuen sich im Vorruhestand auf das Rentnerdasein – obwohl sie die reguläre Rentengrenze noch nicht erreicht haben. „Angesichts des Jubels über die sinkenden Arbeitslosenzahlen vergessen viele, dass es noch eine immens hohe Zahl von verdeckt Beschäftigungslosen gibt“, urteilt Hilmar Schneider, Jobexperte vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). „Die Politik darf diese Menschen nicht aus den Augen verlieren.“

Durch die Kniffe der Arbeitsmarktpolitik fehlen mehr als 1,4 Millionen Menschen in der Statistik. „Der Staat sollte hier zumindest die Teilnehmer arbeitsmarktpolitisch wirkungsloser Programme aufnehmen – sonst lügt er sich selbst in die Tasche“, findet Raddatz. Auch DGB-Experte Adamy ist mit den BA-Zahlen unzufrieden. „Einige Förderinstrumente mögen zwar sinnvoll sein, wenn sie einem Mangel an Qualifikation entgegenwirken“, doch nur aus wenigen Maßnahmen ergebe sich ein positiver Effekt. „Ein-Euro-Jobs führen in den seltensten Fällen zu einer Anschlusstätigkeit.“ Ohnehin sei der Begriff der Arbeitslosigkeit „viel zu eng gefasst“. So gilt erst als arbeitslos, wer weniger als 15 Wochenstunden arbeitet – obwohl er vielleicht mehr machen will.

Rechnet man noch die stille Reserve hinzu, steigt die Zahl der fehlenden Stellen rasch über die Zwei-Millionen-Grenze. Zu dieser Gruppe gehören Leute, die gerne arbeiten würden, aber nicht als arbeitslos registriert sind. Beispiel: Frauen, die nach einer Familienpause wieder arbeiten wollen, aber auf den passenden Job warten. Auch Schüler und Studenten in den Warteschleifen des Bildungssystems gehören dazu.

Für Frank-Jürgen Weise gibt es demnach noch viel zu tun. Ohnehin muss er sich in nächster Zeit auf kleinere Erfolge einstellen, glaubt IZA-Ökonom Schneider. „Die Arbeitslosigkeit wird vermutlich in den kommenden Monaten nicht mehr mit dem Tempo zurückgehen wie zuletzt.“

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