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Untergegangene Berufe: Der Bänkelsänger

Eine Kiste, eine Schautafel und ein lautes Organ: das war das Handwerkszeug der Geschichtenerzähler vom Marktplatz In ihren Liedern ging es um Schlachten, Morde und Katastrophen. Schon damals ließ Mitleid die Kasse klingeln

„Hört, Leute, hört, was ich berichte!
Der kauft mein Lied, den schlägt ein Herz!
Und singen will ich die Geschichte,
Es weint das Aug’, groß ist der Schmerz,
Fünf deutsche Sklaven in Algier,
von diesen singe ich allhier.“

Während auf dem Marktplatz das Treiben in vollem Gange ist, stellt sich ein seltsam gekleideter Mann auf eine kleine Bank und zeigt bei den soeben laut ertönten Worten auf ein Schaubild, das er hinter sich aufgestellt hat. Darauf sind fünf traurig blickende, in Lumpen gekleidete Menschen zu sehen. Sie befinden sich in einem fernen Land, was unschwer an den im Hintergrund aufgemalten Palmen zu erkennen ist. Der Mann, ein Bänkelsänger, erhebt wieder die Stimme und laut ertönt der Titel des bald darzubietenden Stückes: „Fünf unglückliche deutsche Matrosen“. Und weiter: „Brögemann und Holsten, beide aus Pillau in Alt-Preußen, Beck und Hollmann aus Memel und Beyer aus Hamburg, welche von den Seeräubern in die Sklaverei gebracht wurden und sich da mit Hülfe einer jungen Schwedin selbst aus der Sklaverei befreit haben, indem sie auf einem kleinen Nachen in die offene See gestochen sind. Unterwegs hat sie der Hunger so sehr gepeinigt, dass der eine Kamerad, Beyer, sich selbst erstach, dass sie sein Fleisch essen sollten, um sich von dem Hungerstode zu retten.“

Wer jetzt nicht stehenblieb, um diese ungeheuerliche Geschichte in aller Ausführlichkeit zu hören, dem konnte auch nicht geholfen werden. Furchtbares hatte sich da zugetragen, ein schreckliches Ereignis, man stelle sich das vor! Der Bänkelsänger erhebt wiederum die Stimme und trägt das ganze Lied in mehreren Versen vor. Dabei greift er zu einer Drehorgel und begleitet seinen Sing-Sang mit einer eintönigen Melodie. Trauer, Schmerz, Furcht, Grausen: der Bänkelsänger weiß, wie er dem Volk die Gefühle zu entlocken hat. Denn, so lautet eine alte Bänkelsängerweisheit: „Rührung öffnet die Geldbeutel, Lachen schließt sie.“ Ist die Geschichte vorgetragen, so läuft der Spielmann mit einem Hut herum und sammelt Geld ein. Er bietet auch kleine Heftchen zum Kauf an, meist mit drei Liedtexten, zum Teil mit Illustrationen.

Vieser
Durch die Welt der verschwundenen Berufe führt Sie die Journalistin und Autorin Michaela Vieser (r.). Von ihr erschien zuletzt das Buch "Tee mit Buddha - mein Jahr in einem japanischen Kloster". Die Illustrationen zur Serie stammen von der Grafikerin Irmela Schautz. -

© privat

Die erste schriftliche Erwähnung eines Bänkelsängers stammt aus dem Jahr 1709, aber es wird ihn in dieser Form schon vorher gegeben haben, als Nachfolger der Spielmänner und Reimsprecher des Mittelalters. Zunächst waren die Bänkelsänger invalide Soldaten und Landstreicher, die herumgekommen waren und von Ereignissen aus anderen Gegenden in Liedform berichteten. Später war der Bänkelsänger ein richtiger Beruf, oft als Paar – Mann und Frau – oder häufig sogar als Familie ausgeübt. Die Kinder konnten im Publikum herumlaufen und Geld einsammeln, außerdem kam es den Stücken zugute, wenn sie von unterschiedlichen Stimmen gesungen wurden. Es gab sesshafte Bänkelsänger, die in Mundart sangen und selbst die Texte für ihre Lieder schrieben, wie den blinden Bänkel- beziehungsweise Zeitungssänger Philipp Keim (1804-84), der in der Mannheimer Gegend so sein Brot und Wurscht verdiente. Er muss ein solches Unikum gewesen sein, dass ein Volkswirt aus Leipzig sich in seinen Memoiren an Keim erinnerte: „Eine originelle Erscheinung war er... der erblindete Philipp Keim von Dietenbergen, der mit seiner Frau Lisbeth im ganzen Lande Nassau umherzog und überall die von ihm selbst gefertigten Lieder mit lauter Stimme vortrug. Diese Lieder wechselten mit den Ereignissen der Zeit und waren nach dem Grundsatz ’Reim dich oder ich freß dich’ zusammengefügt. Wo der Reim nicht klappen wollte, wurde er durch ein stereotypisches ’Ja, ja’ am Ende einer Zeile ersetzt. Als Selbstdichter hielt sich Keim natürlich für etwas Besseres als andere Orgelmänner und schloss seine Vorträge gewöhnlich mit der Aufforderung an seine Gattin: ’Lisbeth, heb die Grosche uff’, indem er damit andeutete, dass er mit Kupferkreuzern nicht belohnt sein wolle. Natürlich hat er auch diese nicht verschmäht. Ich erinnre mich noch an seine Rhapsodie auf die Mainzer Pulverexplosion, bei deren Vortrag er sich so gewaltig in Begeisterung hineingesungen hatte, dass er sich am Schlusse die hellen Schweißtropfen mit dem Rockärmel von der Stirne wischte.“

Auch in anderen Zeitzeugenberichten wird erwähnt, dass, tauchte Keim auf, Jung und Alt angerannt kamen, um ihm zuzuhören. Nicht sesshafte und weniger stadtbekannte Bänkelsänger mussten mit anderen Mitteln auf sich aufmerksam machen. Ein Affe gehörte häufig mit zur Ausstattung, die Kleidung war meist ausgefallen und hob sich optisch immer von der des Volkes ab. Entweder trug der Bänkelsänger einen Frack, Handschuhe und einen Dreispitz, um autoritär zu wirken, oder aber er wählte lumpige Kleidung, um Mitleid zu erregen. Als Fahrender, am Rande der Gesellschaft Lebender konnte er so bezeugen, dass das Lied vom Leid, das er besang, auch zum Teil sein eigenes sei.

Inspiriert wurden die Bänkelsänger von Zeitungsblättern, die seit Ende des 15. Jahrhunderts zirkulierten, religiösen Gesängen und moralischen Geschichten, die sie auf ihren Reisen aufschnappten und weiterdichteten. Sie verwendeten dabei eine schwülstige Sprache, in die immer wieder Ausdrücke wie „Ach, oh weh“ eingeflochten wurden, sowie die üblichen verdächtigen Adjektive: „schauerlich, fürchterlich, tragisch“. Die Lieder handelten oft von Verbrechen, Morden und Räuberbanden. Es konnten aber auch politische Ereignisse wie die Hinrichtung König Ludwig XVI. in Frankreich besungen werden oder eine Seeschlacht vor Helgoland. Es gab Texte von Katastrophen, von schrecklichen Bränden oder Überschwemmungen, in denen die Zuhörer vom Leid anderer erfuhren und aufatmen konnten, dass sie verschont geblieben waren, sei es aus Gottesfurcht oder aus Tugendhaftigkeit. Aber auch die Leiden des jungen Werther und die darauffolgende Selbstmordwelle waren es wert, besungen zu werden. Immer wieder war es die Moral am Ende der Geschichte, die das kleinbürgerliche Zuhörermilieu rührte. Das Publikum war dankbar, dass all diese schrecklichen Dinge sich woanders zugetragen hatten. Bemerkenswert: In katholischen Gegenden verdienten Bänkelsänger nachgewiesenermaßen besser als in evangelischen.

Aus den Bänkelgesängen entwickelten sich später die Moritatenlieder und Balladen, die aber im Gegensatz zum volkstümlichen Bänkelgesang als Kunstform dastehen und bei denen die Pointe, nicht die Moral, im Vordergrund steht.

Indem sie mit ihrem Repertoire über die Lande zogen, trugen die fahrenden Sänger zu einem gemeingültigen Kanon an Liedgut bei. Auch prägten sie mit ihren spießigen Moralvorstellungen die Geisteshaltung innerhalb der kleinbürgerlichen Auftrittsorte. Es entwickelten sich sogar Verlage, die sich auf Bänkelgesänge spezialisierten und diese auf billigem Papier und in einfacher Fertigung druckten, so dass das Volk die Liedtexte auch zu anderen Anlässen herausholen konnte. Matrosen sollen gute Abnehmer von diesen Liedtexten gewesen sein.

Bis um 1920 fand man innerhalb Deutschlands die Bänkelsänger. Die letzten ihrer Art benutzten nicht mehr Schautafeln mit gemalten Bildern, sondern ausgeschnittene Zeitungsfotos, die weitaus realistischer waren. Dann traten die bunten Illustrierten ihren Siegeszug an – und der Beruf starb aus.

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