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Wirtschaft: Urlaub ist ein Grundbedürfnis

Die Tourismusbranche jubelt: Die Reiselust der Deutschen ist ungebrochenVON ALEXANDRA BORCHARDT BERLIN.Die Tourismusbranche zittert nicht mehr - oder nur noch heimlich.

Die Tourismusbranche jubelt: Die Reiselust der Deutschen ist ungebrochenVON ALEXANDRA BORCHARDT BERLIN.Die Tourismusbranche zittert nicht mehr - oder nur noch heimlich.Mit dem Beginn der Konsumflaute fürchtete auch die Reisewirtschaft, die Tage ihres Wachstums seien gezählt.Woran sollten die Deutschen bei sinkenden Realeinkommen sparen, wenn nicht am Luxus? Die jährlichen Wochen Sonne, Strand und Meer seien zwar schön, aber verzichtbar.Doch mittlerweise triumphiert die Branche: Es wird weiter gereist.Die Deutschen sparen im Urlaub, nicht am Urlaub."Für die Deutschen sind Urlaubsreisen mittlerweile so wichtig wie die Grundbedürfnisse Wohnen und Kleidung", sagt der Freizeitforscher Horst Opaschowski.Also werden bei der Internationalen Tourismus- Börse in Berlin von Sonnabend an wieder Wachstumsphantasien sprießen.Warum aber die Bundesbürger dem Reisen so viel abgewinnen und lieber auf anderes verzichten, darüber grübeln die Wissenschaftler.Ein Grund: Trotz der Einkommenseinbußen seien die materiellen Grundbedürfnisse für die meisten Menschen in Deutschland gestillt.In den Haushalten seien Waschmaschine oder Staubsauger Standard, ein Farbfernseher gehöre zum Existenzminimum, ein Auto besäßen 77 Prozent der Haushalte, schrieb die Trend-Expertin der Nürnberger Gesellschaft für Konsum- und Marktforschung, Claudia Gaspar, in der Tourismus- Fachzeitschrift "FVW International".In langfristiger Betrachtung haben die Verbraucher zudem viel Geld zur Verfügung.Seit 1970 seien die Einkommen der privaten Haushalte inflationsbereinigt um 40 Prozent gestiegen.Das Geldvermögen stieg zwischen 1991 und 1996 laut Deutscher Bundesbank um 40 Prozent auf rund fünf Billionen DM.Statistisch ermögliche dies jedem Haushalt jährliche Zinserträge von etwa 5100 DM.Zwischen 1994 und 1997 schmolz die Kaufkraft der Haushalte laut der Studie aber um fünf Prozent.Dies führe zu mehr Preisbewußtsein.Dennoch geben die Menschen mehr Geld für Freizeitaktivitäten aus.Für Reisen bezahlten die Haushalte vor 30 Jahren etwa ein halbes Netto-Monatsgehalt pro Jahr, heute bereits ein ganzes.Gaspar: "Die Trendlinie verläuft vom Haben zum Sein." Opaschowski sagt dies so: "Konsumerlebnisse werden genauso bedeutsam wie Konsumgüter."Einen Grund für die Reiselust beschreibt Opaschowski so: "Es gibt kaum einen anderen Dienstleistungsbereich, bei dem der Kunde so sehr König sein kann, wie in der Touristikbranche." Reisen als Form der Selbstverwirklichung hebt die Münchner Tourismusforscherin Felizitas Romeiß-Stracke hervor."Die Häutung zu einer anderen Person - und sei es nur für drei Tage - scheint wichtig zu sein." Und niemand könne Menschen auffordern, sich im Beruf auf Globalisierung einzustellen und sich im Privaten auf den Balkon zurückzuziehen.Für die besonders starke Reiselust der Deutschen finden Forscher mehrere Gründe: Romeiß-Stracke sieht den Mangel an Dienstleistung, die Suche nach Exotik und eine "Stimmung der Erstarrung" als Motive.Opaschowski nennt die zentrale Lage, die gute Verkehrsinfrastruktur, das schlechte Wetter und den hohen Lebensstandard.Zusätzlich wirkt der Wandel in der Bevölkerungsstruktur.Zu den jungen Leuten, zu Singles und kinderlosen Paaren mit guten Einkommen kämen nun die "neuen Alten" hinzu.Sie haben im Alter mehr Geld und sind aktiver.Gaspar: "Die konsumstarken Trendgruppen der Zukunft werden erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik nicht mehr nur in der Jugend, sondern insbesondere unter den Alten zu finden sein." Opaschowski erwartet aber eine wachsende Kluft: "Es gibt die, die viel reisen und noch mehr reisen werden, und die, die zu Hause bleiben."

ALEXANDRA BORCHARDT

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