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Wirtschaft: Ursula Schaar

Geb. 1923

Was hält den Menschen am Leben? Zum Beispiel eine Ziehharmonika. Wenn Ursula Schaar auf ihr Leben zurückblickte, überkam sie manchmal ein wenig Respekt vor sich selbst. In ihrer uneitlen Art murmelte sie dann etwas von der „pommerschen Bäuerin in mir“. Damit meinte sie die fast zornige Liebe zum Leben, jene Kraft, mit der sie weitermachte, wenn es sich anbot zu verzweifeln.

Das Leben hatte ihr auch nicht die kleinste Chance gegeben, Befindlichkeiten zu entwickeln. Von ihrem ersten Lebensjahr an wurde sie bei ständig wechselnden Tanten und Onkels verstaut, damit die Eltern Geld verdienen konnten. Was nicht heißt, dass sie keine Zuneigung erfuhr. Nur war die nicht immer als solche zu erkennen. In einer ihrer ersten Kindheitserinnerungen sitzt sie in einer Ecke und starrt auf ihre todkranke Großmutter, die mit einer Rute in der Hand das Mädchen von sich fern zu halten sucht. Wegen der Ansteckung. Liebe in Zeiten der Tuberkulose.

Erst als die Wirtschaftskrise kam, durfte Ursula wieder zu Hause wohnen. Mit der gleichen Sorgfalt, mit der er früher Mikroskope baute, achtete der nunmehr arbeitslose Vater auf die politische Erziehung seiner Tochter. Jeden Mittwochabend fragte er Zeitungsartikel ab und überreichte Ursula anschließend eine Mappe, in der die Lektion für die nächste Woche lag.

Abgesehen davon ließ Ursula sich sehr gerne politisieren.

Etwa, wenn sie gemeinsam mit anderen „Jungfalken“ durch Neukölln lief und aus voller Kehle schmetterte: „Und weil der Mensch ein Mensch ist, hat er Stiefel im Gesicht nicht gern…“

Doch wenn Ursula Schaar sich viele Jahre später als „sozialistisch orientierte Radikaldemokratin“ bezeichnete, sprach eine Überzeugung aus ihrer Stimme, die sich nicht allein mit Falkengezwitscher und Vaterverehrung erklären lässt. Es war vielmehr die Kriegserfahrung. Eine Kriegserfahrung, die am Morgen des 28. April 1945 in der Frage gipfelte, ob es nicht besser gewesen wäre, sich erschießen zu lassen:

Sie saß auf den Stufen zum Kellereingang, betrachtete die rauchenden Schuttberge und Pferdekadaver und fühlte sich wie eine müde Kinobesucherin, die endlich nach Hause will. Zurück zu den anderen im Keller wollte sie nicht. Die hatten unbewegt zugesehen, wie Ursula von ein paar Russen fortgezerrt worden war. Froh, dass sie wegen dieses Mädels nicht nach den eigenen, gut versteckten Frauen gefragt wurden.

Als wolle sich das Leben bei ihr entschuldigen, erblickte sie zwischen dem Schutt eine unversehrte Ziehharmonika. Sie drückte auf Tasten und Knöpfe, probierte eine Melodie – „und mit den Tränen spürte ich, dass ich lebte, und dass ich weiterleben wollte“, sagte sie später.

Das bedeutete zunächst einen harten Existenzkampf. Sie kochte mit Pilzen, aus denen scharenweise die Maden krochen, dazu gab es Brennnesseln aus dem Treptower Park. Sie beugte sich über den Wäscheeimer, dessen Wasser in der Nacht zu Eis gefroren war. Sie pflegte den Vater, der an Hungerödemen litt und mit 47 Jahren an Entkräftung starb. Sie ertrug den Verfolgungswahn und die Selbstmordversuche der Mutter.

Als sie selbst an Tuberkulose und Bauchfellentzündung erkrankte, kam ihr Lebensmut noch einmal ins Wanken. Um ihn neu zu entfachen, schenkte ihr das Schicksal diesmal keine Ziehharmonika, sondern einen klugen und schwarzhaarigen Mann.

So rund und rotbäckig kam Ursula aus der Kur zurück, dass ihr Liebster bei der Begrüßung sein Erschrecken nicht verbergen konnte. Sie heirateten trotzdem. Beide wurden Grundschullehrer, bekamen zwei Kinder, kauften ein Haus.

Doch hatte sie sich nicht für das Leben entschieden, um sich bei nächster Gelegenheit hinter einem Gartenzaun zu verschanzen. Die Härte ihres Schicksals hatte sie nicht eingeschüchtert, sondern, im Gegenteil, ein wütendes Verlangen nach Gerechtigkeit geweckt.

Sie engagierte sich bei der Liga für Menschenrechte und in der SPD, die sie „aus Mangel an innerbetrieblicher Demokratie“ aber bald wieder verließ.

Viel zu tun bekam Ursula Schaar als Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Neukölln. Es waren die Jahre, in denen sich so mancher alte Nazi auf einem fetten Posten räkelte, während allzu links agierende Lehrer Berufsverbot bekamen. Es waren Jahre, in denen es sie noch gab: Die Guten und die Bösen, die Linken und die Rechten.

Der Bösewicht von Neukölln hieß Stadtrat Böhm. Das Tragen von „Atomkraft – Nein Danke“-Plaketten genügte ihm, um den Lehrern Verfahren anzuhängen: „Ihre Meinung können Sie jederzeit frei äußern, aber dann müssen Sie nach Britz-Süd auf den Markt gehen.“ Seine Argumente hießen Staatstreue und Beamtenpflicht. Wenn ein Lehrer bei diesen Stichwörtern vorsichtig auf ein paar Einschusslöcher in der Hausfassade zeigte, drohte er mit noch mehr Verfahren. Ursula Schaar dokumentierte seine tyrannischen Auftritte und gab ein „Schwarzbuch Böhm“ heraus. Der Stadtrat musste zurücktreten. Und Ursula Schaar zog als schulpolitische Sprecherin der AL ins Abgeordnetenhaus ein.

Doch mit den Jahren zog sie sich aus der Politik zurück. Es war nun an der Zeit, sich mit den schönen Dingen dieser Welt zu befassen. Nach ihrem Tod fanden sich im Keller ganze Koffer voll selbst gemalter Landschafts- und Blumenbilder.

Äußerlich wie innerlich verwandelte sie sich immer mehr in einen Buddha. „Ich langweile mich eigentlich ganz gerne“, verriet sie als sehr alte Frau ihrer Tochter, „dann vergeht die Zeit langsamer.“

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