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Frank Bsirske will in seiner Rentenzeit viel lesen.

© Kai-Uwe Heinrich

Verdi-Chef Frank Bsirske: „Religiöse Marktgläubigkeit und maßlose Profitgier haben zu einem Desaster geführt“

Nach 18 Jahren an der Spitze von Verdi tritt Frank Bsirske im September ab. Im Interview zieht er Bilanz und beschreibt seinen größten politischen Fehler.

Seit 2001 steht Frank Bsirske an der Spitze der Gewerkschaft Verdi. Jetzt tritt er ab. Zu seinem Nachfolger wird der Verdi-Bundeskongress am 24. September in Leipzig Frank Werneke wählen, bislang Bsirskes Stellvertreter. Mit 1,9 Millionen Mitgliedern ist Verdi nach der IG Metall die größte deutsche Gewerkschaft.

Herr Bsirske, in vier Wochen sind Sie Rentner. Was haben Sie vor?
Na ja, es gibt viel Interessantes zu lesen.

Zum Beispiel?
Richard J. Evans „The Pursuit of Power“, eine schöne Geschichte des 19. Jahrhunderts. Vielleicht lese ich auch nochmal Eric Hobsbawm und dazu aktuelle ökonomische Analysen. Ich interessiere mich für viele Dinge.

Sie haben keine Angst vor der Zukunft?
Nein, wieso sollte ich?

Sie waren mehr als 18 Jahre Vorsitzender einer Gewerkschaft mit zwei Millionen Mitgliedern und wollen die nächsten 20 Jahre im Garten sitzen und Bücher lesen?
Das ist natürlich eine Zäsur, keine Frage. Ich habe meine Arbeit leidenschaftlich gerne gemacht, und nach 1945 gibt es vermutlich keinen anderen Gewerkschaftsvorsitzenden, der so lange im Amt war. Nun versuche ich, mich körperlich fit zu halten und die eine oder andere Sprache zu verbessern. Dann sollte der neue Lebensabschnitt gelingen.

Sie ziehen zurück nach Hannover?
Ein großer Teil des Freundeskreises von meiner Frau und mir lebt in Hannover, so dass wir perspektivisch die Zelte in Berlin abbrechen und zurück nach Hannover ziehen werden. In eine ruhige Gegend am Stadtrand mit gutem Verkehrsanschluss.

Den brauchen Sie auch, denn künftig gibt es keinen Fahrer mehr und einen Führerschein haben Sie auch nicht.
Das ist wahrscheinlich für die Menschheit auch besser so, denn so gelassen ich sonst bin – im Straßenverkehr rege ich mich gelegentlich auf.

Vielleicht gibt es in der Politik noch Verwendung für das Grünen-Mitglied Frank Bsirske, Sie haben ja die Grünen während der Jamaika-Verhandlungen vor knapp zwei Jahren beraten.
Die Grünen versuchen, Ökologie und Soziales zusammen zu denken, und das mit einer Haltung der Weltoffenheit. Sie wissen, dass wir mehr Zusammenarbeit und mehr Miteinander brauchen und kein Zurück zur nationalen Beschränktheit. Das hat Charme und wird zurecht von den Wählerinnen und Wählern honoriert.

Rechnen Sie mit Neuwahlen?
Das hängt von der SPD ab. Die einzige mögliche Zweierkonstellation wäre dann Schwarz-Grün. Oder Grün-Schwarz. Die SPD beginnt ja langsam sich für eine rot-rot-grüne Konstellation zu öffnen, das kann eine Machtoption werden. Eine andere hat die SPD auch nicht, wenn sie aus der großen Koalition aussteigt.

Sind Sie froh, wenn die Groko vorbei ist?
Warum sollte ich? Sie haben doch einiges auf den Weg gebracht, was unter einer Mitte-Rechts-Regierung nicht vorstellbar wäre: Die Stabilisierung des Rentenniveaus bis 2025 zum Beispiel, die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung oder das Pflegestärkungs- und das Gute-Kita-Gesetz.

Wie haben sich Politik und Wirtschaft verändert in den 18 Bsirske-Jahren?
Die geradezu religiöse Marktgläubigkeit in Verbindung mit einer schier maßlosen Profitgier und einem ungebremsten Deregulierungsfuror haben zu einem Desaster geführt. Der Neoliberalismus ist ja mit einem Wohlstandsversprechen für alle gestartet. 30 Jahre ist das hohe Lied gesungen worden auf den maximalen Profit – und in der Finanzkrise gab es dann die Sozialisierung der Verluste. Die soziale Ungleichheit ist heute ungleich größer. Das haben die Menschen registriert.

Die Tarifauseinandersetzungen Mitte des vergangenen Jahrzehnts sieht Bsirske als schwierige Zeit. Das Foto stammt von 2004.
Die Tarifauseinandersetzungen Mitte des vergangenen Jahrzehnts sieht Bsirske als schwierige Zeit. Das Foto stammt von 2004.

© DPA/DPAWEB

War der Tiefpunkt für die Gewerkschaften die Agenda 2010 im Jahr 2003?
Ich erinnere mich an eine Karikatur in der „Frankfurter Rundschau“ auf dem Höhepunkt der Agendapolitik. Zwei Kinder sitzen im Sandkasten, eins weint bitterlich. Auf die Frage der Mutter, was denn passiert sei, zeigt das weinende Kind mit dem Finger auf das andere und antwortet: „Der hat Gewerkschafter zu mir gesagt.“ So war das vor 15 Jahren. Und ich war damals im politischen Berlin vielerorts eine Persona non grata, übrigens auch bei manchen Grünen.

Verdi ist 2001 mit 2,8 Millionen Mitgliedern gestartet und hat heute noch 1,9 Millionen. Diesen Absturz können Sie nicht allein Gerhard Schröder zuschreiben.
Das tue ich auch nicht. Wenn es einen Punkt gibt, mit dem ich wirklich nicht zufrieden bin, dann ist es genau dieser. Wobei es verschiedene Faktoren gibt für die Mitgliederentwicklung: In den ersten Jahren sind mehr als 300.000 Mitglieder ausgeschieden, die schon lange keine Beiträge gezahlt hatten. Das war „Erbmasse“ der Gründungsorganisationen. In den Bereichen, wo es viele Mitglieder gab – öffentlicher Dienst, Post und Telekom – gab es im Zuge der Privatisierung und Deregulierung einen massiven Stellenabbau. Und dann haben wir sicherlich auch eigene strukturelle Probleme. Zum Beispiel verlieren wir in den ersten fünf Jahren nach dem Eintritt noch zu viele Mitglieder. Daran müssen wir arbeiten.

Was steht ganz oben in Ihrer Bilanz?
Wir haben mit Verdi die starke Dienstleistungsgewerkschaft für Deutschland geschaffen. Sie hat gesellschaftlich Einfluss und erzielt Wirkung. Das gilt für die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und für eine veränderte Rentenpolitik. Wir haben deutliche Reallohnerhöhungen durchsetzen können und auch Meilensteine qualitativer Tarifpolitik gesetzt. Wir haben Fortschritte gemacht bei der Aufwertung sozialer Berufe und dafür 2009 und 2015 erfolgreich Arbeitskämpfe geführt. Das Bezahlungsniveau von Erzieherinnen liegt heute um 300 bis 700 Euro im Monat höher als für vergleichbare Gruppen im TVÖD.

Das hätten aber auch ÖTV und GEW durchsetzen können, dazu brauchte es nicht zwingend Verdi.
Die Durchsetzungsmacht von Verdi ist deutlich größer. Denken Sie nur an den Berliner Kita-Streik 1991, als ÖTV und GEW den Arbeitskampf nach zwölf Wochen ergebnislos abbrechen mussten.

Warum streikt Verdi deutlich häufiger als andere Gewerkschaften?
Im letzten Jahr haben wir 129 Streiks durchgeführt, bei denen es zumeist um die Verhinderung von Tarifflucht ging. Die Erosion des Tarifsystems ist die größte Herausforderung dieser Jahre. Oftmals mussten wir Arbeitskämpfe führen gegen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen. Zum Beispiel zur Personalausstattung im Krankenhausbereich. In 14 großen Kliniken mit unterschiedlichen Trägern haben wir inzwischen eine Entlastung des Pflegepersonals erreicht.

Ihr größter Erfolg ist gleichzeitig Symptom der größten Schwäche: Der gesetzliche Mindestlohn.
Ich habe es immer mit Rousseau gehalten: Da, wo Starke auf Schwache treffen, ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. Das staatliche Handeln war nötig, um das Tarifsystem insgesamt zu stabilisieren, so dass der Lohndruck nach unten gestoppt wird.

Wie stoppt Verdi den Mitgliederschwund?
Vielleicht ist Ryanair ein gutes Beispiel: Über 1000 Flugbegleiterinnen an deutschen Standorten, bunt zusammengewürfelt aus süd- und osteuropäischen Ländern, extrem schlecht bezahlt, überwiegend als Leiharbeitskräfte beschäftigt, mit irischen Arbeitsverträgen zu skandalösen Arbeitsbedingungen. Wir haben es geschafft, einen guten Tarifvertrag durchzusetzen mit rund 1000 Euro mehr im Monat. Ryanair ist ein Menetekel für eine stark globalisierte Belegschaft zu unerhört prekären Arbeitsbedingungen in einem aggressiv gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen mit einem Milliardär als Eigentümer, der Tarifverträge kategorisch ablehnte. In so einem Umfeld sich als durchsetzungsfähig zu beweisen – das ist schon ein Mutmacher.

Bei Amazon klappt das nicht.
Das stimmt so nicht. Als wir angefangen haben bei Amazon, hatten wir null Organisationsgrad, heute haben wir 30 bis 50 Prozent Mitglieder in den einzelnen Zentren. Bevor es die ersten Streiks gab, hatte es vier Jahre bei Amazon keine Lohnerhöhung gegeben und Weihnachtsgeld auch nicht. Im Zuge der Streiks gab es dann mehrere Lohnerhöhungen, höhere Zuschläge und auch Weihnachtsgeld. Wir haben zwar noch keinen Tarifvertrag, aber wir haben materiell sehr wohl Wirkung erzielt. Und die Belegschaften sind selbstbewusster geworden. Das ist enorm wichtig.

Warum war die Tarifreform des öffentlichen Dienstes Mitte des letzten Jahrzehnts so eine schwere Geburt?
Die öffentlichen Haushalte steckten in der schwierigsten Situation seit 1949. Roland Koch verließ mit Hessen die Tarifgemeinschaft der Länder, und andere Bundesländer, Bayern vorneweg, erhöhten für die Beamten die Arbeitszeit auf 41 oder 42 Stunden und kürzten Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Das wollten sie für die Angestellten auch durchsetzen und uns das Kreuz brechen. Mit diversen Arbeitskämpfen konnte das verhindert werden. Seit 2008 haben wir tabellenwirksam wieder deutliche Reallohnzuwächse durchsetzen können. Als Verhandlungsführer für den öffentlichen Dienst habe ich zusammen mit unseren Mitgliedern viel Positives bewegen können.

Und sonst? Haben Sie keine Fehler gemacht?
Ich glaube, dass ich nicht wirklich viele Fehler gemacht habe. Was ich heute anders machen würde: Zu Beginn eines sich abzeichnenden Streiks bei der Lufthansa habe ich damals das satzungsmäßige Recht eines Aufsichtsrats wahrgenommen und bin 1. Klasse geflogen. Das war eine politische Fehleinschätzung, weil ich zu wenig von außen nach innen geschaut habe. Die Satzungsregelung ist dann abgeschafft worden.

Sehr spät haben Sie begonnen, die Verdi-Struktur zu verändern und die Zahl der Fachbereiche zu verringern. In welchem Zustand hinterlassen Sie Verdi?
Wir sind seit vielen Jahren dabei die Strukturen von Verdi weiter zu entwickeln. Und das in großer Geschlossenheit. Und mit einer Organisationskultur, die diskursiver, weiblicher, pluralistischer, weniger hierarchisch und zugleich politischer ist als in vielen anderen Organisationen. Es gibt in der Wirtschaft Fusionen mit nur zwei Partnern, die nach ein paar Jahren scheitern. Bei uns ist der Zusammenschluss von fünf Gewerkschaften gelungen. Darauf bin ich stolz.

Frank Bsirske wurde 1952 im niedersächsischen Helmstedt als Sohn eines VW-Arbeiters und einer Krankenschwester geboren. Bis 1978 studierte er Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. 1987 wurde er Fraktionsmitarbeiter der Grünen Alternativen Bürgerliste im Stadtrat von Hannover. In den 90er Jahren machte Bsirske Karriere in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr ÖTV, deren Vorsitzender er 2000 wurde. Ein Jahr später fusionierte die ÖTV mit vier weiteren Gewerkschaften zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.

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