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Ideenreich. Verena Pausder hat ein Buch geschrieben über eine Zukunft, in der nicht der Wohlstand der Vergangenheit zählt, sondern Innovation. Der Titel: „Das neue Land“.

© picture alliance/dpa

Verena Pausder im Portrait: Woher kommt die Unfähigkeit, nichts zu tun?

Verena Pausder kämpft seit langem für mehr digitale Bildung. Seit dem Homeschooling sind ihre Ideen extrem gefragt. Aber reicht ihr das?

Hatte sie erreicht, was sie wollte, musste das Nächste kommen. So war das immer. Schon als sie klein war. Genieß doch mal kurz, Verena, hörte sie die Eltern oft sagen. Lass die anderen Kinder beim Topfschlagen auch mal gewinnen! Sei geduldig! Sie konnte nicht.

Verena Pausder ist stärker geschminkt als sonst, wegen der Maske. Morgens war sie im Frühstücksfernsehen. Jetzt ist es 13 Uhr. Sie trägt eine rote Bluse, isst nebenbei einen Salat mit Avocado-Stücken, weil sie bis jetzt noch nicht dazu kam. Was sie seit Jahren anstrebt, ist plötzlich von größtem Belang.

Die 41-Jährige will die digitale Bildung in Deutschland voranbringen. Bislang empfand sie die Reaktionen darauf so: Ist nett, was sie da macht, bestimmt auch nicht unwichtig. Aber herrje: Gibt doch Dringlicheres! Im Frühling, als Millionen Kinder von heute auf morgen zu Hause unterrichtet werden mussten, änderte sich das. Eltern verzweifelten. Lehrer. Vor kurzem war Verena Pausder bei „Hart aber fair“. Am Tisch mit der Familienministerin. Jetzt wird ihr zugehört.

„Dabei sind wir ja gerade erstmal nur bei der digitalen Infrastruktur, also dabei, dass alle Internet, einen Computer und eine Mailadresse haben“, sagt sie. Noch lange nicht bei Inhalten. Beim Thema Medienmündigkeit. „Warum wird im Unterricht nicht mal ein Youtube-Video an die Wand geschmissen, das in den sozialen Medien trendet – und überlegt: Ist das die Meinung von jemandem oder sind das Fakten? Und: sind die wahr?“

Es soll bloß nicht alles normal werden. Wie früher

Der Umstieg auf den Digitalunterricht lief in Deutschland viel schlechter als in anderen Ländern ab. Gerade einmal bei jedem zehnten Schüler gelang er problemlos. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage unter Eltern in Deutschland, Australien, Großbritannien, Italien, Kanada, Mexiko und Singapur. Deutschland landete bei diesem Vergleich der Bildungssysteme auf dem letzten Platz. Die Studie wurde im Auftrag des US-Technologieunternehmens Citrix durchgeführt. Für Verena Pausder ist das nicht überraschend. Es räche sich gerade, wie extrem die Digitalisierung hierzulande verschlafen wird. Deswegen soll bloß nicht wieder alles ganz normal werden. Wie früher.

2012 gründete Verena Pausder die Firma „Fox and Sheep“, die Apps für Kinder im Vorschulalter entwickelt. 2016 eröffnete sie ihre erste Digitalwerkstatt, wo Schulklassen lernen, zu programmieren, Roboter zu bauen, Animationsfilme zu drehen. Nachmittags gibt es Kurse für Eltern, Großeltern und Pädagogen. Beide Unternehmen gab sie Ende des vergangenen Jahres vollständig ab. Es war ein lang geplantes Datum. Sie war 40 geworden, hatte 20 Jahre durchgearbeitet. Zeit für was Neues.

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Verena Pausder wollte sich eine Auszeit nehmen, überlegen, welche Gedanken sie noch umtreiben. Als die Schulen schlossen, baute Verena Pausder dann doch eine Website für Homeschooling, auf der sie Tools und Apps vorstellt, Initiativen empfiehlt und praktische Tipps für den Unterricht daheim gibt. Hunderttausende riefen die Seite auf. Im Juni fand ein Hackathon statt, den sie mitinitiierte. Dort wurden 216 Lösungen für das neue Schuljahr zwischen Präsenz und Homeschooling entwickelt. Gerade wird an der Umsetzung gearbeitet.

Bei ihren Kindern gelten strenge Smartphone-Regeln

Woher kommt so ein unermüdliches Wesen? Die Unfähigkeit, nichts zu tun? Ihr Geburtsname Delius steht in ihrer Heimatstadt Bielefeld für eine Unternehmerfamilie, deren Geschichte bis ins Jahr 1722 zurückreicht. Ihr Vater leitete das Textilhandelsunternehmen, als sie groß wurde. Auch ihre Mutter war Unternehmerin. Botschaften, mit denen Verena Pausder aufwuchs: Red nicht so viel, mach lieber! Von nichts kommt nichts! Ihre Eltern kümmerten sich ums Geschäft. Deswegen konnte sie nicht immer irgendwohin gebracht werden. Hatte sie ein Fußballturnier, schaute oft keiner zu. Das machte sie nicht immer glücklich. Aber selbstständig.

Noch öfter digitale Geräte nutzen? Könnten die Kinder doch wie vor langer Zeit im Wald spielen. Für manche sei Verena Pausder jemand Böses. Ihr gehe es aber nicht darum, dass die Kinder in den sozialen Netzwerken herumschwirren. Sie sollen lernen, mit Programmen und dem Internet richtig umzugehen. „Das Smartphone muss in der Schule im Rucksack bleiben“, sagt sie. „Ein Kind bringt sich doch auch kein Buch mit und liest während des Unterrichts darin.“

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Verena Pausder hat drei Kinder. Für sie gelten strenge Regeln. Während Corona durften die älteren Jungen eine Stunde am Tag Medien konsumieren. Jetzt darf der Zehnjährige drei Mal in der Woche und am Wochenende je eine Stunde. Der Zwölfjährige hat seit seinem letzten Geburtstag ein Handy. Er darf anderthalb Stunden täglich bei Whatsapp und Tiktok sein. Ausnahmen bestünden dann, wenn sie etwas herstellen, was Kreatives machen wollen, ein Musikvideo drehen und schneiden – oder mit Scratch programmieren.

Viele Menschen haben Angst vor den vielen Veränderungen, die mit der Digitalisierung einhergehen. Sträuben sich dagegen. Verena Pausder geht es nicht schnell genug.

Deutschland sei eingekuschelt in seinem Wohlstand

Was sie in diesem Jahr ganz in Ruhe tun wollte: Ein Buch schreiben. Im November hatte Verena Pausder den Vertrag unterschrieben. Fast wäre es nicht erschienen. „Ich fiel im März erstmal in eine Schockstarre“, sagt sie. „Wie soll ich mir denn Gedanken um die Zukunft machen, wenn ich die Gegenwart nicht mehr einfangen kann?“ Dann schrieb sie doch los. „Es sollte kein Sachbuch sein, mit 48 zitierten Studien und Fußnoten. Es sollte eine Rede werden.“

Sie handelt von einem Deutschland, das zu mutlos, zu träge sei, zu eingekuschelt in seinem alten Wohlstand. „Wir stecken im Kopf zwischen ’83 und ’97 fest, denken in Autos und Maschinen“ schreibt Verena Pausder. Dabei zeige der Aufstieg des Essenslieferanten Delivery Hero in den Dax, wie sich die Wirtschaft momentan wandelt. Wie mächtig digitale Geschäftsmodelle werden.

Was sie sich für „ein neues Land“ vorstellt? So lautet der Titel ihres Buchs, das in dieser Woche erschien. Verena Pausder schildert eine Arbeitswelt, in der Jobs sinnhaft sind und Vorgesetzte ihren Mitarbeitern vertrauen. In der sich jemand flexibel aussuchen kann, wann und wo er arbeitet. Teams sind divers, die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie nicht so verdammt schwer wie jetzt. Es gibt eine neue Unternehmensform, die sich der Nachhaltigkeit verschreibt. Ein Digitalministerium. Junge Menschen sitzen im Unternehmensbeirat. Frauen und Männer haben die gleichen Chancen.

Während Verena Pausder schreibt, wird deutlich, wie viel Wunschdenken noch dahintersteckt. Im April muss Jennifer Morgan im April SAP verlassen. Sie war die erste Frau an der Spitze eines Dax-Konzerns, führte die Firma zu zweit. Verena Pausder interpretiert die Entscheidung so: „Wenn Krise, dann Mann.“

Wie früh sie die Unterschiede beobachtet. In den Digitalwerkstätten würden viel weniger Mädchen angemeldet. Mit 13, 14 Jahren interessierten sich die meisten kaum noch für Technik. Dabei würde sich aus ihrer Sicht schon in der Schule mit Interessen und Leistungskursen entscheiden, wer später in die gut bezahlten Branchen geht. Wer Chef wird.

Sie suchte ihren eigenen Weg. Fand ihn erst nicht

Mit fünf Jahren hat Verena Pausder angefangen, Fußball zu spielen. Sie musste mehr rennen als die Jungen, sagt sie, sich mehr anbieten, aber als sie Tore schoss, wurde sie ernst genommen. Das prägt sie bis heute.

Welche Idee aus dem Buch als Erstes Realität werden sollte? „Ich würde ein Politician-in-Residence-Programm einführen. Unternehmer würden beispielsweise für zwei Jahre in die Politik wechseln und für einen Bundestagsabgeordneten arbeiten. Andersherum könnte es ein Pflichtpraktikum für Politiker in der Wirtschaft geben.“

Der dritte Bundespräsident Gustav Heinemann war ihr Urgroßvater. Johannes Rau, der das Amt später auch innehatte, der Mann ihrer Tante. Kann man da überhaupt etwas Gewöhnliches tun? Verena Pausder meint: Ja. Sie habe 15 Cousinen und Cousins mit sehr verschiedenen Lebenswegen. Sie sagt aber auch: „Ich war das erste Enkelkind und stand damit besonders im Fokus. Vielleicht war ich deswegen stark auf der Suche nach meinem eigenen Weg.“ Sie fand ihn erst nicht.

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Ihr erstes Unternehmen war eine Sushibar. Eine Salatbar wollte sie kurz darauf eröffnen. Was nie geschah. Vom Scheitern als Chance schreibt Verena Pausder in ihrem Buch. Was leicht ist, wenn man erfolgreich ist.

Die Unternehmerin ist zum zweiten Mal verheiratet. Als Alleinerziehende von zwei Kindern und einem Übervollzeitjob stand sie abends manchmal vor dem Spiegel und fragte sich: Werde ich irgendwem gerecht? Ist das alles viel zu viel meine Show? Mach ich das nur für mich – oder wen sonst? Sie wäre nicht perfekt, sagt Verena Pausder, will nicht so wirken. „Brüche machen einen Menschen echter, vollständiger“, findet sie. Gestern war ihre Mutter da, um auf die Kinder zu achten, wollte abends was kochen. Nichts war da. „Wer mich gut kennt, denkt sich bestimmt manchmal: Über digitale Bildung reden kann sie, aber nicht frisches Brot einkaufen.“

Verena Pausder war 22, als sie ein Traineeprogramm bei der Münchener Rück anfing. In ihrer dritten Woche übergab sie ein achtseitiges Pamphlet, was man alles anders machen müsste. Die Antwort: Wir verstehen, dass du jung bist, aber entspann dich mal. 19 Jahre sind seitdem vergangen – und noch immer ist da diese Ruhelosigkeit. Wird sie mal zufrieden sein? Sie kann es sich nicht vorstellen.

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