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Trainieren und weniger Beiträge für die Krankenversicherung zahlen? Fitte Menschen finden das gut.

© Marius Becker/dpa

Verhaltensbasierte Versicherungstarife: Viele Kunden profitieren nicht

Wer gut Auto fährt, spart in der Autoversicherung. Wer gesund lebt, wird von der Krankenkasse belohnt. Klingt gut, stimmt aber oft nicht.

Wäre es nicht fair und gerecht, wenn die Höhe von Versicherungstarifen durch das eigene Verhalten beeinflusst werden könnte? So könnte jeder im gewissen Rahmen selbst bestimmen, wieviel er für seine Auto- oder Krankenversicherung bezahlen müsste. Warum soll man zum Beispiel für das Erkrankungsrisiko des rauchenden Nachbarn mitbezahlen, wenn man sich selbst gesundheitsbewusst verhält? Umgekehrt sprechen in einer auf geteilten Werten und Normen fußenden Gesellschaft gute Gründe dafür, sich für die Freiheit des Nachbarn bei seiner Lebensgestaltung solidarisch zu zeigen und gegebenenfalls die durch das Rauchen anfallenden Gesundheitskosten mitzutragen. Im Folgenden wird es um neuartige Entwicklungen bei Versicherungen im Bereich Kfz und Gesundheit gehen, die darauf abzielen, digitalisierte Verhaltensdaten ihrer Versicherten zu bekommen, sowie um die Frage wie die Menschen in Deutschland zu diesen Entwicklungen stehen.

Verhaltensabhängige Tarife werden mittlerweile in Deutschland von einigen Versicherungsanbietern im Rahmen der Kfz-Haftpflichtversicherung angeboten (sogenannte Telematik-Tarife). Und im Gesundheitsbereich ist ein Trend zu verzeichnen, dass Versicherungen und Krankenkassen im Austausch von Gesundheits- oder Fitnessdaten mit Vergünstigungen oder Sachprämien locken. Erste Ansätze dafür finden sich zudem bei gesetzlichen Krankenversicherungen im Rahmen von Bonusprogrammen.

In beiden Versicherungszweigen werden Belohnungen auf Basis von Scores gewährt, für deren Berechnung das Verhalten von Versicherten (zum Beispiel die Anzahl täglich absolvierter Schritte im Gesundheitsbereich oder die Fahrgeschwindigkeit im Kfz-Bereich) aufgezeichnet und ausgewertet wird. Technologische Entwicklungen wie Apps auf dem Smartphone oder Telematik-Boxen im Auto erleichtern die Erfassung von Verhalten.

Mit den Potenzialen, Herausforderungen und Gefahren, die sich aus den geschilderten Entwicklungen ergeben, beschäftigte sich der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (SVRV) unter anderem in seinem Gutachten „Verbrauchergerechtes Scoring“. Teil des Gutachtens sind zwei umfangreiche empirische Untersuchungen. Eine Marktstudie untersuchte die Praxis von Kfz- und Krankenversicherungen in Bezug auf Scoring und verhaltensbasierte Tarife. An der schriftlichen Befragung beteiligten sich zehn Kfz-Versicherer mit Telematik-Angeboten und 62 Krankenversicherer. Eine repräsentative Bevölkerungsbefragung hat bei über 2.000 Personen in Deutschland ermittelt, was sie über Scoring wissen, wie sie dieses bewerten und ob beziehungsweise unter welchen Umständen sie an scoringbasierten Versicherungsmodellen teilnehmen würden.

Belohnen Kfz-Versicherer wirklich gutes Fahren?

Kfz-Versicherer stellen ihren Telematik-Kunden in Aussicht, dass sie bei der Verbesserung ihrer Fahrweise unterstützt werden und dass sich so die Sicherheit im Straßenverkehr erhöhen wird. Der Score soll ausdrücken, wie „gut“ jemand Auto fährt. Je höher der Score, desto niedriger ist die zu zahlende Prämie. In den Score fließt allerdings oft auch ein, ob jemand viel in der Stadt oder auf dem Land fährt oder häufig nachts unterwegs ist. Ob aber jemand viel in der Stadt oder nachts mit dem Auto fährt, hat jedoch nichts mit der eigenen Fahrweise zu tun, sondern hängt vom Wohn- oder Arbeitsort und der Art der beruflichen Tätigkeit ab.

Der Berliner Ökonom Gert G. Wagner ist Mitglied der Sozialkammer der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Der Berliner Ökonom Gert G. Wagner ist Mitglied der Sozialkammer der Evangelischen Kirche in Deutschland.

© Imo Phototek.de

Von den zehn Anbietern in der Befragung berücksichtigen neun Anbieter Tag oder Uhrzeit, sieben Anbieter den Straßentyp, fünf Anbieter den Ort einer Fahrt, zwei Anbieter die Bevölkerungsdichte und ein Anbieter die Länge beziehungsweise Dauer einer Fahrt. Diese Umstände sagen nichts über die eigentliche Fahrfähigkeit aus. Misst ein Telematik-Score die Unfallwahrscheinlichkeit eines Versicherten und nicht, wie von der Versicherung angegeben das individuelle Fahrverhalten, so muss das potenziellen Kunden deutlich gemacht werden.

Auch bei den Bonusprogrammen gibt es Probleme

Die Marktstudie des SVRV zeigte, dass es bei den Bonusprogrammen der Krankenkassen ähnliche Probleme gibt. Den Versicherten wird durch die Teilnahme ein präventiver Gesundheitseffekt in Aussicht gestellt. Jede für einen Bonus zu absolvierende Aktivität sollte daher auch tatsächlich gesundheitsförderlich sein. Allerdings bringen in manchen Bonusprogrammen auch Aktivitäten Punkte, deren gesundheitlicher Nutzen durchaus umstritten ist, wie beispielsweise einige Früherkennungsuntersuchungen oder mittlerweile bei einigen Versicherungen der Einsatz von Fitnesstrackern. Manche Krankenkassen ermöglichen ihren Versicherten sogar, mit gemeinnützigen Aktivitäten Bonuspunkte zu sammeln: Fünf Versicherer in der Befragung bonifizieren Blutspenden, Erste-Hilfe-Kurse, Knochenmarktypisierung, Organspendeausweise oder Patientenverfügungen – durchaus sehr begrüßenswerte soziale Verhaltensweisen, die jedoch mit der eigenen Gesundheit erstmal nichts zu tun haben.

Was die Gesundheit besser fördert, sollte auch mehr Punkte bekommen

Auch die Gewichtung der verschiedenen Aktivitäten in den Bonusprogrammen richtet sich nicht unbedingt nach deren gesundheitsförderlichen Effekten. Eine Maßnahme, die gesundheitsförderlicher ist als eine andere, sollte auch mehr Punkte bringen. Bei vielen Versicherungen gibt es aber gar keine Gewichtungen – alle Maßnahmen bringen gleich viele Punkte. Dieses ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, da zum Beispiel Nicht-Rauchen für die Gesundheit ungleich wichtiger ist als beispielsweise die regelmäßige Teilnahme an einer professionellen Zahnreinigung.

Sarah Sommer
Sarah Sommer

© promo

Der Verhaltenseffekt, der durch Scoring-Angebote angestrebt wird, sollte wissenschaftlich fundiert sein. Besonders, wenn es um Bereiche geht, die so sensibel sind, wie die Gesundheit. Bei vielen Merkmalen, die in einen Score einfließen, ist nicht durch unabhängige wissenschaftliche Studien belegt, dass sie tatsächlich einen Einfluss auf die Gesundheit oder das Fahrverhalten haben.

Man müsste den Wert durch sein Verhalten beeinflussen können

Neben der Tatsache, dass die eigentliche Aussagekraft des Scores intransparent bleibt, ist die Verwendung von Merkmalen, die man nicht oder nur schwer selbst beeinflussen kann, wie die Uhrzeit oder den Ort einer Fahrt, schlicht unfair. Ein Telematik-Nutzer, der in der Stadt wohnt, und daher auch viel in der Stadt fährt, wird regelmäßig einen schlechteren Punktwert erhalten, als ein Fahrer, der aufgrund seiner Wohnsituation vor allem Überlandfahrten tätigt. Ein Schichtarbeiter, der vor allem nachts den Weg zu seiner Arbeitsstätte zurücklegt, wird weniger gut bewertet werden, als jemand, der überwiegend tagsüber fährt.

Es können sich nicht alle das Fitnessstudio leisten

Auch in der Krankenversicherung kommt es zu solchen Effekten. Die Teilnahme an einem Bonusprogramm hat auf die Beitragsbemessung eines Versicherten zwar keinen Einfluss, allerdings lässt sich argumentieren, dass durch Boni in Form von Geld- und Sachleistungen die individuellen Kosten für die Krankenversicherung sinken. Potenziell sind bei einigen Krankenkassen Boni von mehreren hundert Euro pro Jahr möglich. Verbraucher werden also benachteiligt, wenn ihnen die Teilhabe an solchen Vergünstigungen und damit niedrigeren Versicherungskosten erschwert oder verwehrt wird. Auch wenn die Bonusprogramme grundsätzlich allen Versicherten offen stehen, scheinen doch nicht alle Maßnahmen auch für alle Verbraucher gleichermaßen gangbar. Beispielsweise setzen sportliche Aktivitäten, Teilnahmen an Sportveranstaltungen oder Sportkursen eine gewisse Mobilität und körperliche Verfassung voraus. Kranken, körperlich beeinträchtigten oder alten Menschen ist es kaum möglich, auf diesem Wege Bonuspunkte zu sammeln. Ähnliche Probleme finden sich, wenn der Nachweis von Körperdaten und Laborwerten (BMI, Blutzuckerspiel und ähnliches) bonifiziert wird. Auch strukturell bedingte Benachteiligungseffekte sind denkbar: Bei einer Reihe von Maßnahmen muss der Versicherte in finanzielle Vorleistung gehen (z. B. Fitnessstudio). Versicherte, die sich dies nicht leisten können, werden damit ebenfalls potenziell benachteiligt.

Zwei Drittel der Verbraucher wollen keinen Telematik-Tarif

Wie stehen nun Verbraucher und Verbraucherinnen zu Telematik-Tarifen und sich in diesem Zusammenhang abzeichnenden Entwicklungen? Laut der im Auftrag des SVRV von infas durchgeführten Bevölkerungsbefragung ist die Mehrheit der Befragten dagegen, dass Merkmale wie etwa die tägliche Schrittzahl, das Gewicht oder der Alkoholkonsum im Bereich Gesundheit und Merkmale wie Land- vs. Stadtfahrt oder Brems- und Beschleunigungsverhalten im Bereich Kfz für die Ausgestaltung von Versicherungstarifen herangezogen werden. Während sich zwei Drittel der Befragten auch nicht vorstellen können, selbst einen Telematik-Tarif zu nutzen, ist für immerhin ein Drittel die Nutzung eines solchen Tarifs und damit verbunden die Preisgabe persönlicher Daten grundsätzlich vorstellbar.

Bonuslösungen funktionieren besser als Maluslösungen

Zudem zeigte sich bei der Befragung eindrücklich, dass allein die Art und Weise wie bestimmte Merkmale für die Ausgestaltung eines Versicherungstarifs präsentiert werden, um nicht zu sagen „verpackt werden“, einen teils erheblichen Einfluss auf die Akzeptanz- beziehungsweise Ablehnungsraten hat. Beispielsweise ist die Mehrheit der Befragten dafür, dass bei Einhaltung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit weniger für den Versicherungstarif gezahlt werden muss, wohingegen die Regelung, dass bei Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit mehr gezahlt werden muss, auf mehrheitliche Ablehnung trifft. Nicht überraschend wird ein Bonus also deutlich bevorzugt und dafür sind Personen eher bereit, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Obwohl ein Malus letztlich  nach dem gleichen Prinzip  funktioniert – in Abhängigkeit von Verhalten und dessen Preisgabe erfolgt eine Konsequenz.

Wer sportlich aktiv ist, findet einen verhaltensbasierten Tarif eher gut

Die Befragung liefert zudem Hinweise dafür, dass die Akzeptanz von Telematik-Tarifen auch von der individuellen Betroffenheit und vom Lebenskontext abhängt sowie ob durch die Nutzung eines Telematik-Tarifs persönlich eher Vorteile oder Nachteile zu erwarten wären: Beispielweise befürworten sportlich Aktivere eher Gesundheits-Telematik, Personen, die Punkte in Flensburg haben, lehnen Kfz-Telematik eher ab und insgesamt werden Telematik-Tarife von Personen, die eine höhere Preisorientierung aufweisen, eher befürwortet als von Personen, die weniger preisorientiert sind.

Soll man Daten zum Fahrverhalten der Krankenkasse geben?

Die Begehrlichkeit an immer mehr persönlichen Daten ist bei vielen (Versicherungs-)Unternehmen groß. Auch die technologischen Möglichkeiten Verhaltensdaten zu sammeln steigen. Oft werden sie direkt auf freiwilliger Basis von den Kunden geliefert. Es ist durchaus vorstellbar, dass zukünftig Versicherungsunternehmen auch Daten beziehungsweise Informationen von ihren Kunden haben möchten, die gegebenenfalls nur noch im weiteren Sinne Relevanz für das versicherte Verhalten haben, um Versicherte noch differenzierter unterschiedlichen Risikoklassen zuordnen zu können – unabhängig davon, ob die benutzte Information kausal mit dem versicherten Risiko verbunden ist. Vor solch ein hypothetisches Szenario gestellt kann sich interessanterweise auch hier etwa ein Drittel der Befragten vorstellen, etwa ihrer Krankenversicherung auch Daten über ihr Fahrverhalten zur Verfügung zu stellen, wenn sie im Gegenzug eine Preisersparnis auf den Krankenversicherungstarif erhielten.

Offenbar ist zumindest ein Teil der Verbraucher gegenüber Telematik-Angeboten aufgeschlossen und damit auch der Preisgabe persönlicher Daten im Austausch für eine Ersparnis. Und es ist gut vorstellbar, dass sich Telematik-Tarife zukünftig mehr und mehr etablieren.

Transparenz ist wichtig

Günstigere Versicherungstarife sind grundsätzlich begrüßenswert, Voraussetzung muss aber sein, dass Anbieter von Telematik-Tarifen transparent machen, was tatsächlich das Ziel des Scorings ist und welche Merkmale mit welcher Gewichtung in den Score eingehen. Auch die Motivierung von Versicherten zu weniger riskantem Fahrverhalten oder weniger gesundheitsschädlichem Verhalten ist nur dann gesellschaftlich gutzuheißen, wenn bestimmte Personengruppen durch die Angebote nicht systematisch benachteiligt werden.

Man muss sich auch dagegen entscheiden können

Versicherte, die ihr Verhalten nicht von Versicherungen bewerten lassen wollen, müssen sich gegen solche Versicherungstarife entscheiden können, ohne dass ihnen daraus substantielle Nachteile erwachsen. Aus diesem Grund spricht sich der SVRV in seinem Gutachten dafür aus, dass Versicherungsunternehmen immer auch eine telematikfreie Option anbieten müssen, insbesondere im Bereich der Kranken- und der Kfz-Versicherung. Denn echte Wahlfreiheit impliziert auch, sich frei zu entscheiden wie man leben und welche Daten man teilen will und auch sich sozial unerwünscht, unangepasst oder „unvernünftig“ zu verhalten. Ein hohes Gut freiheitlicher demokratischer Gesellschaften, das es auch im Bereich der Versicherungen zu wahren gilt.

Gert G. Wagner ist Ökonom am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und des Sachverständigenrates für Verbraucherfragen (SVRV), der Ende 2018 ein Gutachten vorgelegt hat, das sich mit Algorithmen und Scoring beschäftigt (http://www.svr-verbraucherfragen.de/). Er hat das Gutachten federführend zusammen mit Gerd Gigerenzer erarbeitet; die Psychologin Ariane Keitel und die Soziologin Sarah Sommerhaben als Mitarbeiterinnen des wissenschaftlichen Stabs des SVRV daran mitgearbeitet.

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