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Wirtschaft: Vision und Wirklichkeit: Die Bilanz einer Reform

13 Module hat die Hartz-Kommission definiert – von der Ich-AG bis zu den Profis der Nation

„Ziel ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren um zwei Millionen zu reduzieren.“ Das hat Peter Hartz am 16. August 2002 gesagt, als er seine Reformvorschläge vorlegte. Die 13 Punkte der Arbeitsmarktreform und was sie gebracht haben – eine Bilanz.

1. JOB-CENTER – SERVICE FÜR KUNDEN

Idee: Der Dienstleistungsgedanke soll Einzug in die Arbeitsämter halten, die künftig Job-Center heißen und in denen die Arbeitssuchenden als Kunden wahrgenommen werden. Den Arbeitslosen soll Beratung und Betreuung aus einer Hand angeboten werden.

Wirklichkeit: 100 der insgesamt 179 Arbeitsagenturen sind in Kundenzentren umgewandelt worden. Sie betreuen die Jobsuchenden, die das ArbeitslosengeldI erhalten, also nicht länger als ein Jahr arbeitslos sind. In rund 360 Job-Centern sollen sich Mitarbeiter von Sozialämtern und Arbeitsagenturen gemeinsam um 4,7 Millionen Menschen kümmern, die das Arbeitslosengeld II erhalten. Doch haben bis heute nicht alle Jobcenter ihre Arbeit ernsthaft aufnehmen können. In fast 20 Kommunen verwalten Sozialamt und Arbeitsagentur ihre Kunden immer noch getrennt. Die Vermittlungserfolge lassen sich schwer messen. Die Bundesagentur hat für Juni erstmals die Zahl der ALG-II-Empfänger erfasst, die vermittelt wurden: 102910 Abgänge in Erwerbstätigkeit, darunter aber 45000, die nur einen Ein-Euro-Job bekommen haben.

2. FAMILIENFREUNDLICHE

QUICKVERMITTLUNG

Idee: Die Job-Vermittlung soll so früh wie möglich beginnen – wem gekündigt wird, der muss sich unverzüglich bei der Arbeitsagentur melden. Arbeitssuchende, die eine Familie zu ernähren haben, werden bevorzugt behandelt.

Wirklichkeit: Auf die Familienfreundlichkeit wurde verzichtet und die Quickvermittlung heißt jetzt Job-to-Job. Wer sich nicht sofort nach Erhalt seiner Kündigung arbeitslos meldet, dem wird das Arbeitslosengeld gekürzt. Für jeden zu spät gemeldeten Tag werden zwischen sieben und 50 Euro abgezogen.

3. NEUE ZUMUTBARKEIT

Idee: Arbeitslose sollen mehr gefordert werden. So müssen junge, ledige Jobsuchende mobil sein. Auch Jobs, die mit dem erlernten Beruf nichts zu tun haben, müssen angenommen werden – selbst wenn der Verdienst geringer ist als das zuletzt erzielte Einkommen.

Wirklichkeit: Ganz Deutschland hatte diskutiert, ob Akademiker künftig als Würstchenverkäufer arbeiten müssen, wenn die Zumutbarkeitsregeln verschärft werden. Tatsächlich ist es so, dass für Langzeitarbeitslose jede Arbeit als zumutbar gilt, wenn sie nicht sittenwidrig ist, das heißt deutlich unter Tarif bezahlt wird (bis zu 30 Prozent sind zulässig). Wer eine zumutbare Arbeit ablehnt, dem wird das ArbeitslosengeldII gekürzt.

4. AUSBILDUNGS-ZEIT-WERTPAPIER

Idee: Weil die Lage auf dem Lehrstellenmarkt miserabel ist, sollten so neue Ausbildungsplätze finanziert werden. Das Ausbildungs-Zeit-Wertpapier funktioniert wie ein Gutschein. Großeltern und Eltern können für den Nachwuchs bei einer Stiftung ein solches Papier kaufen, das später bei einer Firma gegen einen Ausbildungsplatz eingetauscht wird.

Wirklichkeit: Nie umgesetzt worden.

5. BRIDGE-SYSTEM –

FÖRDERUNG ÄLTERER ARBEITSLOSER

Idee: Ältere Menschen (ab 55) erhalten ein Brückengeld (75 Prozent des Arbeitslosengeldes), wenn sie freiwillig auf die Arbeitsvermittlung verzichten. So sinkt die Arbeitslosenquote, weil die Brückengeld-Bezieher nicht in der Statistik erfasst werden. Ältere, die einen schlechter bezahlten Job annehmen, erhalten einen Zuschuss.

Wirklichkeit : Das Brückengeld ist nicht eingeführt worden. Für diejenigen, die eine Stelle mit einem niedrigeren Lohn annehmen, gibt es einen Zuschuss (Entgeltsicherung), den die Arbeitsagentur zahlt. Auch ein Teil des Rentenversicherungsbeitrags wird übernommen. Die Entgeltsicherung ist aber ein Ladenhüter – nur 6900 ältere Menschen nutzen sie.

6.ZUSAMMENLEGUNG VON SOZIAL- UND ARBEITSLOSENHILFE

Idee: Erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger (als erwerbsfähig gilt, wer täglich drei Stunden arbeiten kann) und Arbeitslosenhilfeempfänger erhalten das Arbeitslosengeld II. Die Höhe ist – im Gegensatz zur Arbeitslosenhilfe – unabhängig vom zuletzt erzielten Einkommen. Die Verwaltung wird durch eine Chipkarte, auf der alle Einkommensdaten des Beziehers gespeichert sind, vereinfacht.

Wirklichkeit: Statt der Chipkarte ist eine neue Software eingeführt worden, die bis heute nicht einwandfrei funktioniert. Das ArbeitslosengeldII beträgt im Westen monatlich 345 Euro, im Osten 331 Euro. Wohn- und Heizkosten zahlt der Staat. Seit Einführung des ArbeitslosengeldsII gibt es die Bedarfsgemeinschaft – sie besteht aus allen Personen, die in einem Haushalt leben. Nur wenn das Gesamteinkommen und Vermögen einer Bedarfsgemeinschaft nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, besteht Anspruch auf staatliche Leistung. „Armut per Gesetz“, war die Parole der Gegner von Hartz IV. Einen Kaufkraftverlust von drei Milliarden Euro bundesweit sagte die Hypo-Vereinsbank voraus. Obwohl ein Teil der einstigen Arbeitslosenhilfebezieher jetzt weniger Geld zur Verfügung hat – genaue Zahlen gibt es nicht –, ist ein spürbarer Effekt auf die Kaufkraft ausgeblieben, sagen Experten. Andererseits lebt – als Folge der hohen Arbeitslosigkeit – laut einer Studie inzwischen jeder fünfte Ostdeutsche unterhalb der Armutsgrenze.

7. BESCHÄFTIGUNSBILANZEN

Idee: Nach dem Motto „Kein Nachschub für Nürnberg“ sollen Firmen Beschäftigungsbilanzen vorlegen. Bei gleich bleibender oder höherer Stellenzahl gibt es einen Bonus bei der Sozialversicherung.

Wirklichkeit: Nie umgesetzt worden.

8.PERSONAL-SERVICE-AGENTUREN (PSA)

Idee: Das Herzstück der Hartz-Reform. Als private Dienstleister, die von der Bundesagentur bezuschusst werden, kümmern sich die PSAs um die Vermittlung von Jobsuchenden. Sie stellen Arbeitslose ein und verleihen sie, ähnlich wie Zeitarbeitsfirmen, an Unternehmen. Durch den Klebeeffekt – wer leihweise in einer Firma beschäftigt ist, hat auch gute Chancen auf eine Festanstellung – sollten jährlich 350000 Arbeitslose einen sozialversicherungspflichtigen Job finden.

Wirklichkeit: Seit Anfang 2003, als die PSAs eingeführt wurden, sind auf diesem Weg gerade einmal 32627 Arbeitslose in einen sozialversicherungspflichtigen Job vermittelt worden. Spätestens seit im Frühjahr 2004 Maatwerk, der größte PSA-Betreiber in Deutschland, Insolvenz anmeldete, ist klar, dass das Konzept nicht funktioniert. Bislang hat die Bundesarbeitsagentur über 400 Millionen Euro an Zuschüssen für die PSAs gezahlt.

9.ICH-AG UND MINI-JOB

Idee: Damit weniger schwarz gearbeitet wird, sind Mini-Jobs in privaten Haushalten bis zu einem Verdienst von 500 Euro monatlich steuerfrei. Arbeitslose können sich mit staatlicher Unterstützung (gestaffelt auf drei Jahre) in einer Ich-AG selbstständig machen. 200000 solcher Mini-Firmen sollen jährlich entstehen.

Wirklichkeit: Seit Januar 2003 sind 322600 Ich-AGs gegründet worden. Allerdings sind 82300 Kleinunternehmer bereits wieder aus der Förderung ausgeschieden – entweder weil sie schon so viel Umsatz machen (über 25000 Euro jährlich), dass sie kein Anrecht mehr auf Unterstützung haben. Oder, und das ist wahrscheinlicher, weil sie aufgegeben haben. Bald könnte es mit den Ich-AGs ganz vorbei sein: Ende 2005 läuft diese Fördermaßnahme aus. Die Bundesregierung wollte sie zum 1.Oktober dieses Jahres verlängern, der Bundesrat lehnte ab. Nun liegt der Entwurf beim Vermittlungsausschuss. Bei den Mini-Jobs läuft es besser: 6,5 Millionen Mini-Jobber, die 400 Euro monatlich abgabenfrei verdienen können, gibt es im gewerblichen Bereich. Die Schwarzarbeit ist zurückgegangen – 2004 um rund 15 Milliarden Euro.

10. NEUORGANISATION

DER BUNDESANSTALT FÜR ARBEIT

Idee: Die Nürnberger Zentrale wird verschlankt. Durch Zielvorgaben sollen die Arbeitsämter ihre Mittel wirksamer einsetzen und mehr Arbeitslose vermitteln.

Wirklichkeit: Die Bundesanstalt heißt Bundesarbeitsagentur, das Logo ist jetzt innen weiß und außen rot. Die Stellenzahl in der Zentrale ist von 1100 auf 500 gesenkt worden, weil Arbeitsbereiche ausgelagert wurden. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit konnte 2004 um 53 Tage verkürzt werden.

11. UMBAU DER LANDESARBEITSÄMTER

Idee: Die Ämter werden Kompetenzzentren – sie betreiben in der Region Wirtschaftsförderung und halten den Kontakt zu den Landesregierungen.

Wirklichkeit: Die Ämter heißen jetzt Regionaldirektionen und kümmern sich darum, dass die Zielvorgaben, die mit Nürnberg geschlossen wurden, in den Arbeitsagenturen eingehalten werden.

12. JOB-FLOATER

Idee: Mittelständler und Freiberufler, die einen Arbeitslosen einstellen und so einen neuen Arbeitsplatz schaffen, erhalten vergünstigte Förderkredite. 120000 neue Jobs sollen so pro Jahr entstehen.

Wirklichkeit: Ende 2002 hat die Kreditanstalt für Wiederaufbau das Programm „Kapital für Arbeit“ aufgelegt, Anfang 2004 wieder eingestellt. Bis dahin wurden 12100 Arbeitsplätze geschaffen.

13. PROFIS DER NATION

Idee: Politiker, Geistliche, Gewerkschafter, Unternehmer Künstler und Journalisten – sie alle sollen sich im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit engagieren.

Wirklichkeit: Unter dem Titel „Teamarbeit für Deutschland“ wirbt Wirtschaftsminister Wolfgang Clement für Ausbildungsplätze. 2005 werden wohl 30000 Lehrstellen fehlen.

Dagmar Rosenfeld

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