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Wirtschaft: Volkmar Hein

Geb. 1950

Er hatte Glück, die Engel und die Erzengel halfen. Aber das hat nicht genügt. Die Kunden der Computerfirma mochten seinen sachlichen Ton, sein Fachwissen und die Einladungen in die feinen Restaurants. Den Frauen gefiel sein Optimismus, und dass er statt vieler Worte Überraschungen bereithielt: Konzertkarten, Blumen, Parfum. Volkmar Hein liebte das Handeln mehr als das Reden. Er war 54 Jahre alt, als er sich erschoss.

Seine Frau trinkt einen Schluck Wasser, dann sagt sie leise: „Er war die Liebe meines Lebens.“ Für ihn hatte sie nach 23 Ehejahren ihren Mann und ihren Sohn verlassen. Für ihn war sie aus Leipzig nach Berlin-Charlottenburg gezogen. Gemeinsam lasen sie historische Romane, besuchten Bach-Konzerte und reisten durch die Welt. Doch als er nach Stuttgart versetzt wurde, wollte sie bei aller Liebe nicht mit. Es folgte ein Jahr der Sehnsucht und der Wochenendbegegnungen, bis er endlich wieder in Berlin arbeiten sollte. Voller Vorfreude erwartete sie ihn in der neuen Wohnung, während er auf der A100 dem Möbelwagen vorausfuhr.

Kurz vor Potsdam stand auf der Überholspur ein Auto, er wich nach rechts aus und stieß mit einem anderen Wagen zusammen. Beide Autos überschlugen sich. Wie durch ein Wunder blieb Volkmar Hein unverletzt. Er stieg aus, um das Warndreieck aufzustellen. Und als wolle jemand beweisen, dass es solche Wunder gar nicht gibt, kam ein Motorradfahrer herangebraust, der Volkmar Hein mitriss. Und wieder ein Wunder: Volkmar Hein überlebte auch diesmal. Die erstaunten Ärzte konnten das nur auf seine kräftige Konstitution zurückführen.

Seine Frau gab den Möbelpackern zerstreute Anweisungen und fuhr zu ihm ins Krankenhaus. Als sie kam, sprach er mit seinem Chef. „Eines ist sicher,“ hörte sie ihn sagen, „im Rollstuhl ende ich nicht.“ Nein, das glaubte sie auch nicht. Dieser Mann, dessen Karriere immer steil nach oben verlaufen war, dessen Körpermaße von 197 cm und 120 kg dem Maß seiner Zuversicht entsprachen, der konnte nicht halb so groß gemacht werden!

Sein Tagespensum von 14 Arbeitsstunden behielt er auch im Krankenhaus bei. Kunden konnte er im Moment nicht überzeugen, dafür aber seine Beine. Denen würde er das Gehen schon wieder beibringen.

Zwei Jahre später hatte er 20 Operationen und eine lebensgefährliche Infektion überstanden, doch laufen konnte er noch immer nicht. Als er die Grenzen der Schulmedizin zu ahnen begann, hielt er sich an den Grundsatz aller Kämpfer: Grenzen sind zum Überwinden da! Eine Reiki-Meisterin legte ihre Hände auf ihn, tat Kraftquellen auf und linderte Schmerzen. Als sie Engel und Erzengel hinzuzog, war ihm das auch recht. Gabriel, Michael, alle mussten helfen, Volkmar Hein auf die gefährliche Hüftoperation vorzubereiten. Und sie halfen! Ja, das taten sie!

Den Ärzten wurde ihr Patient langsam unheimlich. Nicht eine Blutkonserve hatten sie anbrechen müssen. Der Chefarzt nahm diese unmögliche Erfolgsgeschichte mit auf internationale Kongresse und sprach von der „Jahrhundert-Hüfte“. Von den Engelsbildern unter Volkmar Heins Kopfkissen und vom Fern-Reiki während der Operation ahnte er nichts.

Im März 2004 durfte Volkmar Hein nach Hause. Er konnte nicht laufen, nicht länger als zwei Stunden sitzen und eigentlich auch nicht liegen. Die Schmerzen waren schlimmer denn je. Doch die Hoffnung blieb.

Das Paar unternahm Ausflüge an die Ostsee. Er entwarf kühn geschwungene Ringe für seine Frau, ließ sie von einem Goldschmied fertigen und steckte sie ihr an die Finger: „Bald wird alles gut.“ Im Herbst sollten die Knie operiert werden.

Völlig unvorbereitet wurde alle Hoffnung in einem kurzen Informationsgespräch vernichtet: Die Nerven in den Beinen waren tot, weder die Medizin noch die Engel könnten hier weitere Wunder bewirken. „Tut uns leid.“ – Und die Schmerzen? – „Morphium.“

Volkmar Hein rollte nach Hause. Mehrfach hatte er den Tod besiegt. Das also sollte der Preis sein: Jahrelanges Siechtum als Morphinist und Pflegefall. „Wie geht es weiter?“, fragte seine Frau am Abend. – „Gar nicht.“

Er schimpfte nicht. Weinte nicht. Doch in sein Gesicht stahl sich ein boshafter Zug. Zum Geburtstag schenkte er seiner Frau ein Feuerzeug und einen Aschenbecher. „Aber ich möchte doch aufhören“, sagte sie. – „Du wirst bald Grund haben, noch viel mehr zu rauchen“, antwortete er und wandte sich an einen Freund: „Ich werde meine Frau nicht an meinen Rollstuhl binden. Ich finde für uns beide eine Lösung.“ Sprach er vom Pflegeheim? Das würde sie niemals zulassen. Sie liebte auch den kleinen Volkmar Hein. Doch der verweigerte jede Spazierfahrt, und aus dem Optimisten wurde ein griesgrämiger Besserwisser.

Am 28. Oktober bestellte er spät nachmittags im türkischen Restaurant unten im Haus seine Lieblingsspeise. Dann steckte er 15 sorgfältig beschriftete und frankierte Abschiedsbriefe in den Briefkasten. Zurück in der Wohnung ließ er außen den Schlüssel stecken, damit niemand die Tür aufbrechen musste. Auf den Glastisch legte er einen Brief an die Polizei und seine Papiere. Um 18 Uhr 30 rief er seine Frau auf ihrer Arbeitsstelle an: „Du solltest nach Hause kommen. Die Polizei wird auch gleich hier sein.“ Er legte die Bach-CD ein und holte die Pistole aus dem Panzerschrank, ein registriertes Stück aus seiner Zeit im Schützenverein.

Im Brief an die Polizei stand: „Ich kann vor Schmerzen kaum schlafen und gehe ohne Groll… Für die äußeren Umstände entschuldige ich mich, ich bemühe mich, den Schaden so gering wie möglich zu halten.“

An der Tür hing ein großer Zettel mit der Bitte, seiner Frau den Anblick zu ersparen. Die stand im Hof und konnte es nicht glauben. Sie kann es noch immer nicht glauben. Sie schaut in das Schneetreiben hinter dem Fenster und sagt: „Wenn Sie noch Fragen haben, dann rufen Sie mich an. Sie können auch spät anrufen. Nachts. Ich bin wach.“

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