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Wirtschaft: Volkswirte sehen 100 000 Stellen in Gefahr

Ein mehrere Wochen dauernder Streik sowie ein hoher Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie können den Konjunkturaufschwung in Deutschland gefährden und zu einem weiteren Abbau von Arbeitsplätzen führen. 100 000 Jobs wären von der Streichung bedroht, ergab eine Umfrage des "Tagesspiegel" unter Bank-Volkswirten.

Ein mehrere Wochen dauernder Streik sowie ein hoher Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie können den Konjunkturaufschwung in Deutschland gefährden und zu einem weiteren Abbau von Arbeitsplätzen führen. 100 000 Jobs wären von der Streichung bedroht, ergab eine Umfrage des "Tagesspiegel" unter Bank-Volkswirten. Außerdem würden sich viele Firmen nach günstigeren Produktionsstandorten im Ausland umsehen, warnten die Experten. Dies gilt besonders für die Autoindustrie, die ihre Fabriken wegen der hohen Kosten hier zu Lande zunehmend nach Osteuropa verlagert, erklärte der Gelsenkirchener Auto-Forscher Ferdinand Dudenhöffer.

"Das Risiko ist nicht gering, dass das Tarifergebnis den beginnenden Aufschwung abwürgt", sagte Michal Heise, Chefvolkswirt der DZ Bank in Frankfurt (Main). "Die Unternehmen müssen die steigenden Personalkosten an anderer Stelle kompensieren. Also streichen sie ihre Investitionen zusammen", erklärte er. Bislang erwarten die meisten Experten und Forschungsinstitute ein beschleunigtes Wachstum ab der zweiten Jahreshälfte und hoffen auf ein um 0,9 Prozent stärkeres Bruttoinlandsprodukt.

Wiederholung des Szenarios von 1995?

"Das ist ein ähnliches Szenario wie nach der Tarifrunde 1995", sagte Heise. Damals hatte die IG Metall eine Lohnsteigerung von 5,1 Prozent durchgesetzt, nachdem sinkende Arbeitslosenzahlen einen leichten Aufschwung signalisiert hatten. Am Metall-Abschluss orientieren sich traditionell die anderen Branchen. Die Folge: War das Bruttoinlandsprodukt 1994 noch um 2,3 Prozent gewachsen, lag es 1995 nur noch bei 1,7 und 1996 bei 0,8 Prozent. Schuld daran sei allerdings auch der hohe Außenwert der D-Mark gewesen, fügte Thomas Mayer hinzu, der Chefvolkswirt der Investmentbank Goldman Sachs in Frankfurt (Main). "Zu diesem Szenario könnte es jetzt auch wieder kommen", befürchtet er. Seit Ende Januar ist der Wert des Euro von 0,86 Dollar deutlich gestiegen. Am Montag setzte ihn die Europäische Zentralbank bei 0,9144 US-Dollar fest.

Ein hoher Abschluss würde zudem Arbeitsplätze kosten, warnten die Bank-Chefvolkswirte. "Schon jetzt steht fest, dass sich die Erholung am Arbeitsmarkt weiter verzögern wird", sagte Ulrich Ramm von der Commerzbank. "Würde der Abschluss in allen Branchen um die drei Prozent liegen, würde das 100 000 Arbeitsplätze kosten", hat Martin Hüfner, Chefvolkswirt der Münchner Hypo-Vereinsbank, berechnet. Goldman-Sachs-Fachmann Mayer erwartet sogar schon früher schlimme Folgen. "Alle gesamtwirtschaftlichen Lohnsteigerungen über 2,25 Prozent kosten Jobs", sagte Mayer.

Eine durch hohe Lohnsteigerungen steigende Inflationsrate fürchten die meisten Experten indes nicht. Nur um einen viertel Prozentpunkt werde die Geldentwertung zunehmen, erwartet die Hypo-Vereinsbank. Der Grund: "Der Wettbewerb und der Preisdruck in Europa sind so stark, dass die Unternehmen ihre höheren Personalkosten nicht über die Preise weitergeben können", sagte Michael Heise von der DZ Bank.

Der aktuelle Streik werde den Unternehmen indes nicht spürbar schaden, sind sich die Ökonomen sicher. "Ein Ausstand, der nur wenige Tage dauert, ist zwar für einzelne Firmen schmerzhaft, wirkt sich gesamtwirtschaftlich aber kaum aus", findet Hypo-Vereinsbank-Mann Hüfner. Denn liegen gebliebene Aufträge würden anschließend in Überstunden abgearbeitet. Zu lange dürfe der Ausstand aber nicht dauern, warnt Goldman-Sachs-Experte Mayer. "Der sieben Wochen dauernde Streik im Jahr 1984 wurde trotz Mehrarbeit anschließend nicht mehr aufgeholt, es blieb unterm Strich ein Minus."

Autoindustrie geht nach Osteuropa

Für gravierender halten die Banken-Volkswirte die langfristigen Folgen eines hohen Abschlusses, der durch einen Streik erzwungen würde. Die Unternehmen würden in Zukunft vorwiegend in Maschinen investieren, die Arbeitskräfte einsparen, erwartet Commerzbank-Experte Ramm. Außerdem bekäme das Land ein Image-Problem. "Viele Investoren würden annehmen, dass die Phase der gemäßigten Lohnpolitik in Deutschland vorbei ist und sich nach günstigeren Standorten umsehen", warnt Martin Hüfner von der Hypo-Vereinsbank.

Dieser Prozess sei in der Automobil-Branche bereits in vollem Gang, schreibt Ferdinand Dudenhöffer, Professor für Automobilwirtschaft in Gelsenkirchen, in einer neuen Studie. Hersteller und Zulieferer stünden unter enormem Preisdruck und verlagerten Fabriken zunehmend nach Ungarn, in die Slowakei oder nach Tschechien. Dabei spiele der Faktor Lohn eine wesentliche Rolle, besonders im langfristigen Kalkül. "Jedes Prozent Lohnsteigerung ist eine zusätzliche Standort-Verbesserung für die Ost-Länder", so Dudenhöffer. "Bereits heute scheint der Standort Deutschland ohne Subventionen wie in Leipzig kaum mehr tragfähig."

brö

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