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Eichstätt

© Imago

Vollbeschäftigung: Arbeit für alle

Vollbeschäftigung ein Ziel zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Im Süden Deutschlands gibt es so wenige Jobsuchende wie sonst nirgends in der Republik - das schafft ganz eigene Probleme.

Hier muss es sein. Irgendwo zwischen den sanft geschwungenen Hügeln Oberbayerns, den selbst im kalten Frühjahr schon sattgrünen Wiesen, über denen sich der Himmel weißblau wie im Sprichwort wölbt, steckt ein Geheimnis – das Rezept für Vollbeschäftigung und Wohlstand. Aber wo? Die Äcker reichen bis zum Horizont, über die Bundesstraße 13 tuckert ein Traktor mit Güllefass, viele Dörfer am Wegesrand haben nicht einmal einen Supermarkt. Erst kurz vor dem Eichstätter Ortsschild, an der Brücke über das Flüsschen Altmühl, kommen die Betriebshallen eines Gewerbegebiets in Sicht. Es ist überschaubar, ein Autohändler, eine Druckerei, ein Busunternehmen, ein paar kleine Fabriken. Die Boomgegend der Republik, irgendwie hatte man sie sich anders vorgestellt.

Doch die Statistik lügt nicht: Eichstätt ist einzigartig. Die 14 000-Einwohner- Stadt in der Mitte des Freistaats hat deutschlandweit die niedrigste Arbeitslosenquote. Nur 2,0 Prozent der Erwerbsbevölkerung waren im März ohne Stelle. Das Erfolgsgeheimnis? Nein, so etwas gebe es nicht, winkt Arnulf Neumeyer, 58, ab. Er verwaltet als Oberbürgermeister seit 14 Jahren den Wohlstand. „Diese guten Zahlen haben wir seit Jahrzehnten“, brummt er in breitem Bayerisch.

Im oberschwäbischen Biberach, 200 Kilometer südwestlich, muss man nicht so lange suchen. Die Stadt ist geradezu umstellt von Firmen – der Kran- und Kühlschrankbauer Liebherr, der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim oder der Autozulieferer Handtmann beschäftigen jeweils tausende Leute. An vielen Ecken wird gebaut und expandiert. Auch in Biberach ist fast niemand arbeitslos, die Quote lag zuletzt bei 2,4 Prozent. „Die Null vor dem Komma wollen wir schon noch schaffen“, sagt Walter Reinhardt, der Leiter der örtlichen Arbeitsagentur. Er sieht nicht aus, als würde er scherzen.

Was Wirtschaftsminister Michael Glos erst für das nächste Jahrzehnt avisiert, ist in einigen Gegenden Deutschlands schon Realität: Vollbeschäftigung. Der Arbeitsmarkt vor allem im Süden der Republik ist leer gefegt, dort steigt die Zahl der offenen Stellen, nicht die der Arbeitslosen. Flächendeckend gab es das zuletzt in den frühen Siebzigern. Dann kamen die Jahrzehnte der Massenarbeitslosigkeit, und Vollbeschäftigung wurde zum wolkigen Politikertraum. Von Krise zu Krise wuchs der Grundstock der Arbeitslosen.

Bis 2005. Seitdem sinkt die Arbeitslosigkeit so rasch wie seit Jahren nicht. Trotz der Furcht um die Konjunktur ist kein Ende in Sicht: Im Herbst wird die Zahl der Stellensuchenden unter die Drei-Millionen-Marke sinken, sagen Fachleute. Das bedeutet Vollbeschäftigung für immer mehr Gegenden. Schon heute melden mehr als 120 Städte und Kreise eine Arbeitslosenquote von fünf Prozent und darunter. Am besten läuft es nördlich von München: Dachau kommt auf 2,9 Prozent, Erding auf 2,8, Freising auf 2,7. Aber auch in Teilen von Rheinland-Pfalz und selbst von Nordrhein-Westfalen ist Arbeitslosigkeit selten geworden. An der Spitze stehen aber Biberach und Eichstätt – mit 2,4 und 2,0 Prozent.

„Regionen in Bayern und Baden-Württemberg zeigen schon jetzt, dass Vollbeschäftigung prinzipiell möglich ist“, sagt Joachim Möller. Er leitet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, die Denkfabrik der Arbeitsagenturen. Doch euphorisch ist er längst nicht. „Im Osten haben wir noch einen ganz langen und schweren Weg vor uns.“ In Berlin schneidet mit 10,4 Prozent das wohlhabende Steglitz-Zehlendorf am besten ab. Am weitesten von der Vollbeschäftigung entfernt ist das vorpommersche Demmin – aktuelle Quote: 22,4 Prozent.

Für Arnulf Neumeyer, den Bürgermeister, ist Demmin sehr weit weg, nicht nur räumlich. Wenn der Sozialdemokrat vom Fenster seines Rathausbüros auf den Eichstätter Marktplatz blickt, sieht er, warum es seiner Stadt so gut geht. Die Touristen kommen gerne in die engen Gassen der 1100 Jahre alten Bischofsstadt mit den schmucken Barockfassaden, den prachtvollen Kirchen, den Klöstern und der Willibaldsburg. Die Gasthöfe heißen „Im Paradeis“, „Schmankerlwirtshaus zur Krone“ und „Hirschenwirt“. Bayerischer könnte eine Stadt kaum sein, katholischer auch nicht. Viele Bürger lassen Heim und Seele von Maria schützen, die als Statue über den Haustüren wacht.

Für sichere Jobs und Kaufkraft sorgen zudem Staat und Kirche. Mehr als ein Dutzend Schulen, der Bischof und seine Ämter, die Kreisverwaltung, die Bereitschaftspolizei und sogar eine Universität beschäftigen hunderte Menschen. „Richtige Industrie passt gar nicht hierher“, sagt Neumeyer. „Wenn jetzt ein Betrieb hier 400 Arbeitsplätze schaffen wollte, müsste ich denen wahrscheinlich absagen.“ Ihm fehlen schlicht die nötigen Fachkräfte.

Das ist die Schattenseite des Aufschwungs. Heinz Weitner plagt sich damit jeden Tag herum. „Ich könnte sofort sechs Facharbeiter für die Zerspanung einstellen“, klagt der Unternehmer. „Doch der Markt ist leer.“ Dabei expandieren Weitner und seine 190 Beschäftigten, gerade ist ein schicker neuer Bürokomplex fertig geworden, mit viel Sichtbeton, frischen Farben und Glas. Weitner stellt Maschinen für Autowerkstätten und Bauteile für Medizingeräte her. Die Firmen reißen sich um die guten Leute, das treibt die Preise. „Hier werden ja schon Kopfprämien gezahlt. Oder sie schicken Headhunter.“ Vor allem Audi, größter Arbeitgeber im nahen Ingolstadt, ist attraktiv. „Auch für einfache Jobs am Band zahlen die 700 Euro mehr als normalerweise üblich.“

Das macht die Sache für Vermittler in den Arbeitsagenturen nicht einfacher, in Eichstätt ebenso wenig wie in Biberach. „Wer qualifiziert ist, kommt ruckzuck unter“, weiß der Biberacher Behördenchef Reinhardt. Den Firmen fehlen neben Ingenieuren auch einfache Leute – Schweißer, Schlosser, Fahrer, Lackierer. Trotzdem strömen die Arbeitslosen aus anderen Regionen nicht hierher. „Das gibt es leider noch zu wenig.“ Glück für die, die nicht erste Wahl auf dem Jobmarkt sind. Im Zuge eines Modellversuchs betreut ein Vermittler in Biberach nur 70 Arbeitslose – statt wie in Großstädten oft mehrere hundert. Reinhardt: „Wer sich morgens arbeitslos meldet, kann, wenn nötig, schon am Nachmittag mit dem Berater die Bewerbungsunterlagen besprechen.“

Wer dennoch keine Stelle findet, darf sich der besonderen Beachtung der Mitbürger gewiss sein – gerade in einer aufgeräumten süddeutschen Kleinstadt. „Hier hat die Arbeitslosigkeit meist einen Namen und ein Gesicht“, sagt Reinhardt. „Im Schwäbischen ist man eigentlich nicht arbeitslos.“ Sind die Zeiten doch einmal schlecht in Biberach, steigt die Arbeitslosigkeit auf vier Prozent. „Das war wie Weltuntergang“, erinnert er sich.

Wer erst einmal eine Stelle hat, behält sie in der Regel. 40-jährige Firmenjubiläen oder 50-jährige, das ist bei den Vollmer-Werken nicht ungewöhnlich. „Wir haben null Fluktuation. Einmal Vollmer, immer Vollmer“, erzählt Stefan Brand, der Technikchef des Sägemaschinenspezialisten. Vollmer, 750 Beschäftigte, ist einer dieser typischen Mittelständler – ein überschaubarer Familienbetrieb, aber in einer Nische Weltmarktführer. Brand muss nicht mit fixen Hurra-Meldungen die Börse begeistern. „Bevor wir über Personalanpassungen nachdenken, nehmen wir es lieber hin, dass die Zahlen eine Zeit lang nach unten gehen“, sagt er. Firmen wie Vollmer verdankt der Süden seinen Erfolg – daher lässt er sich kaum kopieren.

Vollbeschäftigung macht reich – Biberach geht es finanziell so gut wie kaum einer anderen Kommune. Man kann es sich leisten, schon an morgen zu denken. „Die demografische Entwicklung wird für einen harten Kampf um gute Leute sorgen“, glaubt Thomas Fettback, der Oberbürgermeister. „Schon in wenigen Jahren.“ Darum will er so viel wie möglich für Bildung und Betreuung ausgeben, „auch wenn das abgegriffen klingt“. Gerade hat die Stadt 18 Millionen Euro für ein neues Gymnasium locker gemacht. Das wird sich auszahlen, da ist er sicher. „Wir sind attraktiv und investieren in Dinge, die uns noch attraktiver machen.“ Für Ostdeutschland, das weiß er, ist das keine gute Nachricht. „Langfristig werden wir die anderen Regionen leer saugen“, sagt Fettback. „Aber etwas anderes bleibt uns nicht übrig.“

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