zum Hauptinhalt
Streiks nehmen zu

© dpa

Vor dem 1. Mai: Gewerkschaften im Aufschwung

Jahrelang haben die Arbeitnehmervertretungen viele Mitglieder verloren. Jetzt scheint sich der Trend umzukehren. Die Gewerkschaften gewinnen wieder an Einfluss.

Sie haben Gerhard Schröder überstanden, Hans-Olaf Henkel und Guido Westerwelle. Als „Plage“ mussten sie sich beschimpfen lassen, ein Haufen von Betonköppen und Besitzsstandswahrern, der die Globalisierung nicht kapiert. Schlimm. Doch jetzt sind sie wieder da. Im Windschatten der Konjunktur kommen die Gewerkschaften zu neuen Kräften. Erfolge gibt’s im Kerngeschäft: Tariferhöhungen um mehr als fünf Prozent für Stahlarbeiter und den öffentlichen Dienst – das war in den vergangenen Jahren undenkbar. Auch der lange und lästige Arbeitskampf der Lokführer endete mit einer satten Gehaltserhöhung, weil die Streikenden die Sympathien in der Bevölkerung nie verloren. „Gute Arbeit und gute Löhne müssen drin sein“ – dieses Motto des diesjährigen 1. Mai können breite Teile der Gesellschaft unterschreiben.

Zwar werden alle Gewerkschaftsführer am Donnerstag auf Bühnen klettern und mit Klassenkampfrhetorik die Innenstädte bereichern. Das gehört zum 1. Mai. Doch „unsere Zukunft entscheidet sich in den Betrieben und nicht auf der Straße“, sagt Berthold Huber, der Vorsitzende der IG Metall. Das Programm Hubers an der Spitze der mit 2,3 Millionen Mitgliedern größten Gewerkschaft ist schlicht und kompliziert zugleich: Mitglieder, Mitglieder, Mitglieder. „Wir orientieren uns an den konkreten Herausforderungen in den Betrieben“, sagt Detlef Wetzel, der zweite Vorsitzende der Metaller. „Ein Buch schreiben nutzt ja nichts“, sagt er. Für die Arbeitnehmer müsse die Gewerkschaft „erfahrbar“ sein. Hans-Joachim Schabedoth, strategischer Kopf des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), betont die „Kernkompetenz bei der Gestaltung von Arbeit“.

In die Richtung denkt und spricht auch Frank Werneke, der Vize-Vorsitzende von Verdi. „Wie erfolgversprechend ist eine Mitgliedschaft bei den täglichen Problemen?“, diese Frage müssten die Gewerkschaften beantworten. Also Hilfestellung leisten bei der Bewältigung der Angelegenheiten am Arbeitsplatz. Und natürlich für Geld sorgen. Vor allem die monatelange Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst, die Ende März mit einer kräftigen Tariferhöhungen endete, hat Verdi Mitglieder gebracht. Im ersten Quartal traten 51 390 Arbeitnehmer der Dienstleistungsgewerkschaft bei, nur 8000 verließen Verdi. Die Zahl der Austritte ist verglichen mit den Vorjahren ungewöhnlich niedrig. Wie der Tagesspiegel am Sonntag in Gewerkschaftskreisen erfuhr, hat die zweitgrößte deutsche Gewerkschaft nun 2,214 Millionen Mitglieder und dazu noch ein paar tausend weitere Aufnahmeanträge im Posteingang. Das ist überraschend, denn vom Aufschwung haben bislang vor allem Industriearbeiter und damit auch Industriegewerkschaften profitiert. „Das erste Quartal ist ganz exzellent gelaufen“, sagt indes Verdi-Vize Werneke. Wegen des öffentlichen Dienstes, aber auch wegen des unendlichen Tarifstreits im Einzelhandel.

Ein Blick in die Mitgliederstatistik der Metall- und Chemiegewerkschaft sieht nicht ganz so gut aus. Die IG BCE verlor im ersten Quartal 5000 und zählt jetzt noch 708 000 Mitglieder. Die IG Metall hatte dagegen unterm Strich nur noch einen Verlust von 265 Beitragszahlern und wird voraussichtlich nach in diesem Jahr das erste Mal seit Mitte der 90er wieder mehr Mitglieder gewinnen als verlieren.

DGB-Abteilungsleiter Schabedoth beobachtet einen „neuen Gestaltungsoptimismus“. Als Beleg führt er den Einsatz der IG Metall in der Leiharbeitskampagne „Gleiche Arbeit – Gleiches Geld“ an. Es gibt wieder Themen, die von Gewerkschaften gesetzt werden. Auch weil diese Themen „eine höhere gesellschaftliche Wertschätzung erfahren“, wie Wetzel sagt. Neben der Leiharbeit nennt er Mindestlohn und überhaupt soziale Gerechtigkeit. „Die ganze Republik diskutiert über Gerechtigkeit.“ Davon haben die Gewerkschaften und ihre Mitglieder aber erst dann etwas, wenn sich die Durchsetzungschancen für Lohnforderungen verbessern. „Gewerkschaften sind vor allem Mitgliederorganisationen und weniger Ideologieproduzent“, sagt Schabedoth. Und nur wer sich engagiert, könne auch etwas erreichen. „Von Angela Merkel gibt es keine 7,50 Euro Mindestlohn.“

Weil das so ist und weil die SPD noch immer unter dem Glaubwürdigkeitsverlust durch die Agendapolitik leidet, „trifft auf offene Ohren, was die Gewerkschaften sagen“. Wie lange das anhält, weiß indes niemand. Im Aufschwung, wenn es was zu verteilen gibt, kommen die Gewerkschaften gut weg. Doch der nächste Abschwung kommt, und damit kehrt dann die Angst um den Arbeitsplatz zurück. „Doch Leute, die verängstigt sind, kann man nicht mobilisieren“, weiß Schabedoth. „Verzichten können die Leute allein. Ohne Gewerkschaften.“

Zur Startseite