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Wirtschaft: Was ist Armut?

Wer ist arm? Berechnungen lassen SpielraumVON JOBST-HINRICH WISKOW BERLIN.

Wer ist arm? Berechnungen lassen SpielraumVON JOBST-HINRICH WISKOW BERLIN.Sind drei Millionen oder zehn Millionen Menschen hierzulande Arme? Gibt es in Deutschland gar keine Armut? Oder werden immer mehr Menschen zu Armen? Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Dortmund, ist überzeugt: "Die Leute werden immer reicher." Demgegenüber sagt Burkhard von Seggern vom Deutschen Gewerkschaftsbund: "Die Wirtschaftspolitik in unserem Land schafft immer mehr Armut." Offenbar ist umstritten, ob Armut tatsächlich ein Phänomen ist, das immer mehr Menschen betrifft.Das Problem besteht darin, die Armut zu messen.Krämer hat sich über diese Diskussion derart aufgeregt, daß er die Aussage, die Armut nehme zu, in seinen Bestseller "Das Lexikon der populären Irrtümer" aufgenommen hat.Meist ermittelt man die Armutsquote, indem man feststellt, wie viele Leute weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdienen.Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat ausgerechnet, daß demnach arm ist, wer unter 941,50 DM im Monat verdient.Damit gäbe es in Deutschland rund zehn Millionen Arme. Steigt der Durchschnitt freilich auf 2200 DM, so ist arm, wer unter 1100 DM erhält.Die Zahl der Armen bleibt nach Ansicht von Krämer hoch, auch wenn die so arm gar nicht seien.Selbst wenn alle Einkommen und damit der Wohlstand eines Landes auf das tausendfache wachsen, verringert sich die Armut nicht.Sie zu beseitigen, so Krämer in einem Gutachten für das Gesundheitsministerium, das für die Sozialhilfe zuständig ist, sei deshalb schon definitionsgemäß unmöglich.Die immer wieder angeführte Definition der relativen Armut sei schlichtweg "unwissenschaftlich". "Irrtum", sagt DGB-Referent von Seggern.Denn es sei durchaus gerechtfertigt, Armut derart verhältnismäßig zu messen."Wenn es der Gesellschaft insgesamt besser geht, kann man auch erwarten, daß es den Armen besser geht." Aber der Gewerkschafter gesteht zu, daß die Statistiker mit dieser Frage willkürlich umgehen können.Beispiel: Man könnte die Armutsgrenze nicht bei der Hälfte des Durchschnitts ansetzen, sondern bei zwei Dritteln - mit der dramatischen Folge, daß die Zahl der Armut enorm zunähme. "Die Armut ist wie ein Bus", sagt Krämer."Der ist immer voll, aber an jeder Haltestelle steigen Leute aus und wieder andere ein." Die, die vor zehn Jahren zu den einkommensschwächsten zehn Prozent gehörten, zählen heute größtenteils nicht mehr dazu.Und wer heute zu denjenigen mit dem niedrigsten Einkommen gehört, hat gute Chancen, in zehn Jahren nicht mehr dabei zu sein. Wer mit diesen Statistiken jongliere, wolle damit Politik machen, vermutet Krämer.So wie jene Leute, die kurzerhand definieren, alle über zwei Millionen Sozialhilfe-Empfänger seien automatisch arm."Pervers", sagt Krämer, denn die Sozialhilfe sei ja genau jenes Einkommen, das keine Armut zulasse."Das Problem", so Krämer, "ist, daß die Menschen nicht zwischen Armut und Ungleichheit unterscheiden können." So sei nicht darüber zu streiten, daß Einkommen und Vermögen ungleich verteilt sind.Aber das habe nichts mit der Frage der vermeintlich immer schlimmer werdenden Armut zu tun. Trotzdem gebe es Arme, sagt Udo Neumann vom Institut für Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung in Frankfurt (Main).Das seien jene, die eigentlich Sozialhilfe bekommen würden, sie gleichwohl nicht kassieren.Die Soziologen bezeichnen sie als die verdeckten Armen.Gerade hat Neumann eine Studie angefertigt und herausgefunden, daß rund 2,8 Millionen Menschen in Deutschland in verdeckter Armut leben.

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