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Wirtschaft: Wenn es hart kommt, gehen die Russen einkaufen

In tiefer Sorge stürzte Sergei Alexandrov hinaus auf die Straße.Die russische Regierung hatte gerade angekündigt, den Rubel um bis zu 34 Prozent fallen zu lassen.

In tiefer Sorge stürzte Sergei Alexandrov hinaus auf die Straße.Die russische Regierung hatte gerade angekündigt, den Rubel um bis zu 34 Prozent fallen zu lassen.Er war allerdings bewaffnet mit einer Einkaufstasche und nicht mit einem Molotov-Cocktail.Wie viele Russen streifte Alexandrov durch die Läden, um seine hart verdienten Rubel in beständige Güter einzutauschen - bevor die Abwertung seine Ersparnisse aufzehrt.Der Computerprogrammierer kaufte sich schnell vier Telefone, zwei von Siemens, eines von General Electric, ein russisches Modell - und eine riesige Wasserpumpe für seine Datscha.

"Die Preise steigen, doch die Löhne bleiben dieselben", erklärt er, und holt zwischendrin Luft, während er und sein Vater die schwere weiße Pumpenschachtel über den Gehweg nahe der "Ausstellung der wirtschaftlichen Errungenschaften" befördern.So nennt sich das Einkaufszentrum aus der Sowjet-Ära."Wenn wir jetzt nicht kaufen, werden wir nichts mehr übrig haben."

Es scheint so, als würden die Russen einkaufen gehen, wenn es wirklich hart auf hart kommt.Über Wochen hinweg haben Politiker, Investoren und Analysten gewarnt, daß eine Abwertung des Rubel eine Welle sozialer Aufruhr auslösen könnte.Wer wollte ihre Logik anzweifeln? Der Fall einer Währung hatte in diesem Jahr bereits in anderen Ländern weitreichende Folgen.Die besten Beispiele: der erzwungene Abgang des indonesischen Präsidenten Suharto und der Rücktritt des japanischen Premiers Ryutaro Hashimoto.

Doch die Pessimisten haben eines nicht bedacht: Den russischen Charakter.Abgehärtet nach Jahrzehnten des Mißbrauchs durch den Staat tun sie, was sie in den wiederkehrenden Momenten der Krise immer tun: Sie machen aus der Situation das beste.Sie legen sich nicht auf Eisenbahnschienen oder schwenken Protestplakate vor dem Kreml.Sie versuchen statt dessen ihre Verluste zu begrenzen, indem sie Waschmaschinen, Juwelen und Autos kaufen.

"Jeder wußte doch, daß die Regierung das tun würde.Warum also sich aufregen?" fragt Yuri Loginov, Arbeiter in einer Textilfabrik, der gerade einen Farbfernseher von Grundig für 250 Dollar aus dem Einkaufszentrum schiebt."Wir haben alles mitgemacht und leben immer noch - deshalb können wir auch damit umgehen." Diese Haltung ist so verbreitet, daß es sogar einen Run auf den russischen Zhigulis gab, ein Kleinwagen, der normalerweise gegen die Importe keine Chance hat.Der Grund: Durch die Abwertung wurde der Zhigulis gegenüber den Import-Konkurrenten viel billiger."Das war eine besondere Woche", sagt Sergei Tsvetkov, stellvertretender Direktor der Moskauer Filiale von AO Avtovaz, Rußlands größtem Autohersteller.Die Verkaufszahlen kletterten innerhalb einer Woche um 150 Prozent.

So hätte alles eigentlich nicht kommen sollen.Als Boris Jelzin während des Aufstands vor sieben Jahren auf einen Panzer kletterte, versprach er der Welt ein neues, freies und demokratisches Rußland.Die jungen Reformer, die er später in den Kreml brachte, entwarfen Wirtschaftspläne, unter denen das Land heute die Früchte aus Wachstum und stabilem Rubel ernten sollte.Doch vieles ist - und vieles ist nicht - passiert in dieser Zeit.Statt eines weichen Übergangs in eine westlich geprägte Volkswirtschaft wie sie es mittlerweile in Prag und Budapest gibt, mußten die Russen einen Tiefschlag nach dem anderen hinnehmen - Schlangestehen für Brot und Wodka zu Sowjetzeiten, dann 2000 Prozent Inflation, nicht zu vergessen den Bürgerkrieg, politische Aufstände und die Zunahme der Straßenkriminalität.Die letzte Wendung der Dinge ist, obwohl sie unangenehm ist, nur ein kleiner Ausschlag auf der Skala der politischen Katastrophen."Wenn die Regierung die Abwertung in einer Zeche verkündet hätte, wäre vielleicht jemand aufgestanden", sagt Alexandrov, und spielt dabei auf den öffentlichkeitswirksamen Streik der Bergleute an."Aber nicht hier, nicht jetzt."

Die Finanzkrise darf dennoch nicht unterschätzt werden.Obwohl sie noch nicht auf die Geldbeutel durchschlägt, hat sie die erste wirtschaftlich stabile Phase des Landes seit Beginn der Reformen beendet.In den vergangenen beiden Jahren war die Inflation vergleichsweise gering.Geschäftsleute konnten ihre ersten langfristigen Entwicklungspläne entwerfen.Familien begannen, ihr Geld in Rubeln zu sparen und nicht mehr in Dollars.Jetzt wurde das hart erworbene Vertrauen erschüttert."Diese Krise ist ein schwerer Schlag für alle, die begannen, etwas Vertrauen in die Regierung zu gewinnen", sagt Andrej Kortunov, Direktor der Russischen Wissenschaftsstiftung, eines "Think Tanks" aus Moskau."Jetzt sind wir wieder soweit wie 1991, ohne Aussicht auf Besserung."

Bis jetzt nehmen die Russen im ganzen Land - und nicht nur im wohlhabenden Moskau - die Finanzturbulenzen still und leise hin, wenn man russischen Berichten glauben darf.Draußen in den wirtschaftlich schwächsten Regionen verblassen die Preissteigerungen bei den Konsumgütern im Vergleich mit dringenderen Problemen: Die Menschen des gebeutelten Pazifikhafens Wladiwostok beispielsweise kämpfen täglich mit Lohnrückständen, Stromausfällen und Wasserknappheit.

Ein Grund, warum die Russen den Kreml nicht unbedingt stürmen wollen, ist, daß die Preise nicht stark in die Höhe gehen.In den Geschäften steigen sie sogar überhaupt nicht.Die Erklärung ist einfach.Die Regierung hat ihnen offen Strafen angedroht, sollten sie ihre Preise stärker als die Inflationsrate erhöhen.Der neue Wirtschaftszar des Landes und Steuerchef, Boris Fjodorov, hat sogar gedroht, Steuerprüfer in unwillige Firmen zu schicken.

Auf alle Fälle ist das Vertrauen in den Rubel verlorengegangen.Monatelang hatte der Rubel bei einem Kurs von 6,1 zum Dollar gestanden, um dann auf rund 7 Rubel zu fallen.Wechselstuben wollten 7,5 Rubel für einen Dollar.Viele Russen wollten daraufhin ihre Rubel loswerden.Sie einfach umzutauschen wird für viele Menschen allerdings immer schwerer, da den Wechselstuben die Greenbacks ausgehen.Die Banken, einige davon sollen am Rande der Zahlungsunfähigkeit stehen, konnten auch nicht weiterhelfen.

Auch wenn die Konsumenten noch nicht besonders besorgt sind, die Firmen machen sich auf alle Fälle ihre Gedanken.Es ist schwierig, Geschäfte zu machen ohne einen stabilen Wechselkurs.Deshalb kalkulieren viele jetzt wieder mit dem Dollar.Einige Importeure haben den Handel eingestellt, bis sich die Kurse wieder beruhigt haben.

Aus dem Wall Street Journal Europe, übersetzt und gekürzt von Kristina Greene (Rubel), Polly Schminke (Clinton-Affäre), Karen Wientgen (Produktpiraten) und Joachim Hofer (Rußlandkrise).

BETSY MCKAY

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