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Wirtschaft: Werner Lanze

Geb. 1909

Vollkommenheit ist machbar. Aber warum machen die Leute so viele Fehler? Der Leiter des Kirchenorchesters in Eichwalde war ein blonder, attraktiver Mann, und er gefiel den Frauen. Doch für leichtfertige Avancen war Werner Lanze viel zu ernst, der Ehrgeiz zu groß, der Geist zu tief. Er spielte Geige, Klavier, er komponierte. Aus seinen Anlagen so viel wie möglich zu machen, darin sah er seine Pflicht – nach Höherem zu streben, so wie es seine strenge Mutter von ihm erwartet hatte.

Die Mutter hatte ein Prinzip: Den Willen eines Kindes muss man brechen, um ihm sodann eine streng-christliche Richtschnur zu geben, ein neues Rückgrat aus Höflichkeit, Zurückhaltung, Gehorsam. Werner Lanze wusste wohl selbst, was er da für ein drückendes Korsett mit sich herumtrug. Wenn er später in stillen Stunden nachdachte und Briefe an sich selber schrieb, war da auch Bitterkeit über die Dressur der frühen Jahre, die es ihm ein Leben lang schwer gemacht hatte, echte Unbekümmertheit zu empfinden.

Er studierte Eisenbahntechnik in Berlin, die Mutter, Witwe mit kleiner Rente, sparte für sein Studium. Da musste er natürlich gut sein. Der Ingenieurberuf wurde damit zu seiner Bestimmung und er nicht nur ein gläubiger Christ, sondern auch ein gläubiger Naturwissenschaftler, später auch ein glühender Verfechter der Atomenergie. Er glaubte an die Perfektion der Technik, sagt sein Sohn, der so oft mit ihm diskutiert hat. Der Vater liebte das Vollkommene – und er wollte oder konnte nicht einsehen, dass Maschinen von Menschen gehandhabt werden, die längst nicht so perfekt sind wie das, was sie erschaffen.

Der Krieg hätte es ihn lehren können. Schlimm genug war das, was er erlebte. Der Kamerad, der neben ihm im Schützengraben gelegen hatte, wurde Sekunden später von Granitsplittern zerrissen. Lanze fragte sich, was sich wohl jeder in so einem Moment überlegt: Warum lebe ich noch und der nicht mehr? Weil, Werner, beantwortete Lanze sich seine Frage, als die Seele sich beruhigte, der Herrgott mit dir noch was vorhat, etwas Großes, etwas ganz Bedeutsames. Weniger die Einsicht in die Abgründe der menschlichen Natur, vielmehr die göttliche Vorsehung begriff er als Richtschnur seines Lebens.

Seine Maßstäbe waren hoch. Der Heroenkult bei Wagner faszinierte ihn. In Sachen Freundschaft orientierte er sich an Schillers Bürgschaft. Nur einen Moment der Leichtigkeit und Unbedachtheit gab es, vielleicht der Sorgloseste in seinem Leben. Es war nach dem Krieg, als auf den Schuttbergen in Eichwalde schon wieder musiziert wurde. Eine Sängerin kam zu Gast in die Gemeinde und der hübsche Leiter des Kirchenorchesters verliebte sich über beide Ohren. Zu Weihnachten schenkte er ihr handgeschrieben eine kleine Komposition, und das, obwohl sie keine Pfarrerstochter war, wie die Mutter es gern gesehen hätte, sondern eine Kriegerwitwe mit zwei Kindern. In der Liebe zur Musik trafen sie sich: Sie, die Lebenslustige kam von der Gefühlsseite, er, der Ernste, mehr von der Mathematik. Diese Frau ließ sich der Lanze nicht ausreden, auch in ihr sah er eine Aufgabe. Die Mutter protestierte in gewohnter Heftigkeit, aber erstmals vergeblich.

Bei der AEG bewunderten die Kollegen seine Genauigkeit, das Pflichtbewusstsein. 25 Jahre lang gingen dort alle Fachaufsätze über seinen Tisch, als „Techniker mit literarischen Aufgaben“ suchte er nach noch so kleinen Fehlern in den Werken der anderen. Das Penibelsein, das Korrigieren und Kritisieren, es lag ihm, und es verschaffte ihm Respekt. Auch in der Gemeinde und in der Berliner Bach-Gesellschaft, der er jahrelang gewissenhaft als Kassenprüfer diente. Im Privaten machte es ihn anstrengend – und auch einsam, wenn er an den harmlosen Vergnügtheiten seiner Frau und der Kinder keine Freude finden konnte. Er selbst fand Freude stets in der Musik.

Es hat ihn immer wieder erstaunt, wie viele Fehler die anderen Menschen machen, sagt sein Sohn. Warum es überhaupt Fehler geben muss. Auf der Rückseite kleiner Werbezettel der Berliner Bach-Gesellschaft notierte er jede sprachliche Ungenauigkeit, die er in seiner Zeitung fand – seit 1946 war seine erklärte „erste geistige Kost des Tages“ der Tagesspiegel. „Ein Entkommen war kaum unmöglich – Tagesspiegel vom 21.02.02, Seite 36, Spalte 4“. Kopfschüttelnd fragte er sich, wie so etwas durchgehen konnte.

Jeder Fehler erscheint unglaublich dumm, wenn andere ihn begehen.

Er selbst war noch mit 92 überzeugt, ein tadelloser Autofahrer zu sein, trotz der schlechten Augen. Seine Kinder mussten ihm irgendwann die Autoschlüssel abnehmen. Bis dahin war er mit einem Schutzengel gefahren.

Noch im Seniorenheim korrigierte er die Speisepläne, bis zum Schluss der Idee der Vollkommenheit verpflichtet. Wie sein Trauergottesdienst aussehen sollte, legte er lange vor seinem Tod fest. Er wollte kein Risiko eingehen und schloss im Voraus jede Fehlermöglichkeit aus: „Nur die Worte Gottes verkünden“, verfügte Werner Lanze schriftlich und: „Bitte keine Predigt“.

Kirsten Wenzel

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