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Getrübte Aussicht. Großbritannien ist in Europa einer der attraktivsten Investitionsstandorte, auch für deutsche Firmen. Das könnte sich ändern, wenn die Briten die EU verließen. Schon die Jahre vor einer Austrittsentscheidung dürften dem Standort schaden. Foto: AFP

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Wirtschaft: Wichtiger als Frankreich

Die deutsch-britischen Wirtschaftsbeziehungen sind intensiv/EU-Austritt könnte Investitionen blockieren.

Britische Wirtschaftsführer sind hin- und hergerissen. Sollen sie Premier Cameron und seinem kühnen Europaplan die Daumen drücken? Oder sind die Risiken zu groß, wenn sich die Briten im Referendum gegen die EU entscheiden? Mit einem gemeinsamen Brief an die „Times“ zeigten 56 Wirtschaftslenker der größten Unternehmen, dass ihr Herz für Camerons Pläne schlägt. „Wir brauchen eine neue Beziehung zur EU, gestützt von demokratischem Mandat“, schrieben unter anderem die Chefs des Getränkegiganten Diageo, des Technikkonzerns Rolls- Royce und der Londoner Börse. „Unternehmen werden in Brüssel immer mehr Lasten auferlegt und der gemeinsame Markt ist nicht voll realisiert.“ Aber es gibt auch andere Stimmen. Zehn Unternehmer, angeführt von Virgin-Airline-Gründer Richard Branson, warnten vor der Wirkung auf Investoren. „Die Ungewissheit wird fünf Jahre frostiges Investmentklima schaffen”, meinte der Exchef der Investmentbehörde UK Trade and Invest, Sir Andrew Cahn.

Als offene, flexible Wirtschaftsnation ist Großbritannien seit langem einer der attraktivsten europäischen Investitionsstandorte. Im Ranking des UN World Investment Report stand Großbritannien im vergangenen Jahr an der Spitze der Europäer. Und zwei Jahre zuvor, 2010, investierten allein deutsche Firmen wie Siemens, Bosch, BMW, RWE und Eon rund 107 Milliarden Euro auf der Insel. Japanische Autos für Europa werden nach Milliardeninvestitionen von Nissan und Honda in Großbritannien gebaut, General Motors hat Kapazitäten von Deutschland nach Großbritannien verlegt und BMW transportiert seine Motoren von Birmingham zum Einbau nach Deutschland. „Diese Investitionen werden nicht plötzlich von der Klippe fallen. Aber Unsicherheit bezüglich Großbritanniens Zukunft in der EU, wohin die Hälfte der Exporte geht, wird Investitionen drücken“, so der Chefökonom der Berenbergbank, Rob Wood. Proeuropäer argumentieren, drei Millionen Arbeitsplätze hingen von Europa ab und 50 Prozent der Exporte gingen über den Kanal. EU-Skeptiker glauben, dass diese Zahlen falsch sind und der Trend gegen sie spricht. Seit einiger Zeit fallen die Exporte in die EU-Länder. Während Großbritannien mit den EU-Partnern ein Handelsdefizit von rund 48 Milliarden Euro einfährt, werden im Handel mit Nicht-EU-Ländern 20 Milliarden Euro Überschuss erzielt. Viele Exporte in die EU seien in Wirklichkeit für Länder außerhalb der EU bestimmt und würden nur über Häfen wie Rotterdam umgeschlagen.

Als Großbritannien 1973 in die EU eintrat, war Europa das führende Wachstumsgebiet der Welt. Die Briten, die 1973 einen Handelsüberschuss mit der damaligen EU hatten, tauschten ihren alten, natürlichen Handelsraum, den Commonwealth, gegen Europa und wurden von ihm durch eine EU-Handelssteuer abgeschnitten, die noch heute zwischen fünf und neun Prozent beträgt. Euroskeptiker argumentieren, dass Europa immer mehr Bedeutung verliert und stagniert, während neue Industriestaaten, von denen viele in der „Anglosphäre“ des Commonwealth liegen, wachsen. Und sie weisen eine Statistik vor: Von 1973 an war die Handelsbilanz mit Europa negativ. Als Exportmarkt, so ihr nüchternes Argument, ist Großbritannien wichtiger für die EU als die EU für Großbritannien.

Die Wirtschaftsbeziehung zu Deutschland steht im Zentrum der Argumente. Beide Volkswirtschaften hätten sich in den letzten zehn Jahren immer mehr von der Euro-Zone weg auf andere Weltregionen orientiert, schreibt der Analyst David Marsh. Und das Nicht-Euro-Land Großbritannien hat inzwischen Frankreich in einer bedeutsamen Rangliste abgelöst: In den ersten neun Monaten 2012 war Großbritannien Deutschlands wichtigster Handelspartner, vor Frankreich, den USA und den Niederlanden. Das wird sich rasch ändern, wenn die Briten nicht mehr der EU angehören.

Doch noch aus einem anderen Grund glauben die Briten, dass Deutschland alles tun wird, um die Briten in der EU zu halten. Ohne Großbritannien würde sich das Stimmengewicht in der EU zugunsten der protektionistischeren Südschiene gegen den liberalen Nordblock verschieben. So sei es in der Geschichte immer gewesen: Deutschland und Europa braucht die Briten, um das Gleichgewicht zu halten. Auch in der Wirtschaft.

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