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Wirtschaft: Wir haben geschlossen

Wer ein Geschäft aufgeben muss, fühlt sich oft als Versager. Die Anonymen Insolvenzler helfen Gescheiterten, wieder auf die Beine zu kommen

Sie hat einen langen Weg hinter sich. Im Kopf sind noch die Zweifel. Sie zögert, als sie in Friedenau ankommt. Soll sie durch die rote Tür gehen? Sie nimmt alle Kraft zusammen und steigt die Treppe hinauf. Als sie den nüchternen, weiß gestrichenen Raum betritt, bricht es aus hier heraus. Sie fängt an zu weinen.

„Die Frau konnte lange nicht mehr damit aufhören“, erzählt die Leiterin des Gesprächskreises der Anonymen Insolvenzler in Berlin, Manuela Haan. Aber dann erzählte eine andere Teilnehmerin der Runde ihre sehr ähnliche Geschichte – und welche erste Lösungen sie gefunden hat. „Danach ging es der Frau sichtbar besser“, sagt Haan. Denn bis dahin hatte sie mit niemandem darüber gesprochen, dass ihr Unternehmen gescheitert ist.

Denn: Das ist etwas, über das man in der Regel nicht redet – außer bei den sich als Selbsthilfegruppe und Krisenberatung verstehenden Anonymen Insolvenzlern mit Manuela Haan, ihren Mitstreitern Reinhard Nocke und Michael Wippich und anderen Betroffenen.

Und selbst das fällt vielen schwer: „Viele drehen vor der Tür wieder um, weil ihre Scham zu groß ist und kommen erst vier Wochen später zum nächsten Termin. Wenn sie überhaupt kommen“, sagt Manuela Haan. In vielen Kreisen sei es verpönt, zu scheitern. Von einer Privat- oder Firmeninsolvenz erfahren nicht einmal die Freunde. Dabei kommt es recht häufig dazu. Allein im vergangenen Jahr wurden in Berlin fast 8000 Insolvenzverfahren beantragt.

„Alle die zu uns kommen, sind verzweifelt“, sagt Manuela Haan. „Bei uns kann man sich die Kraft holen, um weiter zu kämpfen. Wir drei kennen das Gefühl, unter Druck zu sein.“ Auch die Gesprächskreisleiterin und ihre beiden Mitstreiter haben eine Insolvenz hinter sich – und wissen Rat. Im Gesprächskreis geht es vor allem um Erfahrungsaustausch. Die Anonymen Insolvenzler helfen aber auch in praktischer Hinsicht. Sie bieten Einzelgespräche an und unterstützen dabei, die notwendigen Schritte einer Insolvenz zu gehen.

„Bei vielen wird der Tunnelblick immer enger. Sie können nicht mehr klar denken. Und das führt oft zu weiteren Fehlentscheidungen.“ Da helfe, sich im Gespräch regelmäßig mit der Situation auseinanderzusetzen und neue Perspektiven zu entdecken, sagt Haan. Anfangs müssten sich viele erst bewusst werden, dass sie so nicht weitermachen können, sagt Nocke. Am Anfang sei es wichtig, alle Verbindlichkeiten aufzuschreiben: „Viele wissen gar nicht, wie viele Schulden sie bei wem haben.“ Sie kommen erst, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Dabei könnte guter Rat manchmal sogar helfen, eine Insolvenz noch abzuwenden.

Nocke hat sich nach seinem eigenen Scheitern zum Insolvenzberater weitergebildet. Manuela Haan hat eine Fortbildung zur Gesprächskreisleiterin absolviert. Jetzt macht sie eine Coaching-Ausbildung. „Ich kann inzwischen wieder schlafen und lachen“, sagt sie. Sie hatte zwei Kredite nicht abzahlen können, deshalb blieb ihr nur die Privatinsolvenz.

Beide sehen in ihrem Scheitern auch etwas Positives: „Ich wäre vorher nie auf die Idee gekommen, eine Coaching-Ausbildung zu machen“, sagt die Einzelhandelskauffrau, die heute einen Minijob am Empfang einer Physiotherapiepraxis hat. Und Nocke findet, er habe jetzt eine andere Lebenseinstellung: „Früher ging es mir von früh bis spät nur darum, Geld zu verdienen. Jetzt finde ich es auch wichtig, anderen Menschen zu helfen.“ Bekannte halten ihn für viel verträglicher und nachsichtiger. Nocke spricht mit ruhiger Stimme und verhaltenen Gesten. Meistens hat er die Hände gefaltet. Er wirkt wie jemand, dem man sich leicht anvertrauen kann.

Schon vor 15 Jahren ging Nockes Elektrotechnik-Firma in Konkurs. Damals gab es noch nicht das heutige Insolvenzrecht. Sein Betrieb sei zu schnell gewachsen: „Mein betriebswirtschaftlicher Sachverstand konnte da nicht mithalten. Ich konnte damals etwa keine Bilanzen lesen.“ Er ging unvorteilhafte Verträge ein. „Schließlich war mein Hauptauftraggeber pleite. Da bin ich mit untergegangen.“ Auf „dieses Subunternehmerwesen“ ist er nicht gut zu sprechen. Das sei sei häufiger der Grund für Insolvenzen.

Das wichtigste, was Nocke aus dem eigenen Scheitern gelernt hat ist: „Man muss ehrlich zu sich selbst sein. Ich habe alle Fehler analysiert und erkannt, dass ich den größten Teil davon selbst gemacht habe.“ Also ging er mit über 50 noch mal zur Abendschule und studierte Betriebswirtschaft : „Das hätte ich eigentlich machen sollen, bevor ich eine Firma eröffnet habe.“ Inzwischen lehrt er neben seiner Tätigkeit als Insolvenz- und Schuldnerberater sogar als freier Dozent Rechnungswesen. Bilanzen sind jetzt kein Problem mehr für ihn. Und seine Aufgabe gefällt ihm – ganz anders als die vorherige: „Eigentlich hat mir Elektrotechnik nie richtig Spaß gemacht.“

Um nach einer Insolvenz wieder Fuß zu fassen, müsse man vor allem die Vergangenheit hinter sich lassen – das sagen alle drei. Michael Wippich jedoch fällt das nicht ganz so leicht wie den beiden anderen. Er kann seiner Firmeninsolvenz nichts Positives abgewinnen: „Ich komme aus einer Unternehmerfamilie und die Insolvenz hat meine gesamte Zukunftsvision über den Haufen geworfen.“

Ein Insolvenzverfahren dauert sechs Jahre und Wippich ist noch mittendrin. Das wichtigste allerdings ist geschafft: 2010 bekam er die „Restschuldbefreiung“ – er muss jetzt niemandem mehr Geld geben. Nun ist er in der „Wohlverhaltenphase“, die zwei bis drei Jahre dauert. „In dieser Zeit ist man kein wirtschaftlich eigenständig Mensch“, sagt Wippich. Man ist dem vom Gericht bestellten Insolvenzverwalter nicht nur über die Einnahmen und Ausgaben auskunfts- und rechenschaftspflichtig. Der Verwalter muss sogar im Vorfeld von persönlichen Entscheidungen wie einer Heirat erfahren.

„Insolvenz ist kein Allheilmittel, sondern ein gravierender Einschnitt in das ganze weitere Leben“, sagt Wippich. Aber eben auch nicht das Ende des Lebens – das sollen die Teilnehmer des Gesprächskreises vor allem erkennen, sagt Manuela Haan. „Man soll entspannter und gelassener hier wieder weggehen als man gekommen ist.“ Das helfe schon, die Situation zu bewältigen.

Zum Gesprächskreis könne jeder kommen, der sich „in einer finanziellen Schieflage“ befinde, sagt Wippich: „Wenn man feststellt, dass das Einkommen nicht für den ganzen Monat reicht und man zwei oder drei Monate lang den Dispositionskredit nicht ausgleichen kann , ist das schon ein Hinweis auf Überschuldung.“

www.anonyme-insolvenzler-berlin.de

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