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Wirtschaft: „Wir lassen zu, dass Europa scheitern kann“

Peter Sutherland, Chairman von Goldman Sachs und früherer WTO-Chef, über die Schwierigkeit, Arme reicher zu machen, und die Krise der EU

Herr Sutherland, die neue Freihandelsrunde sollte die armen Länder wohlhabender und die Welt gerechter machen. Warum ist nichts daraus geworden?

Ich glaube, es war von vornherein falsch, die Runde eine „Entwicklungsrunde“ zu nennen. Das hat den Eindruck vermittelt, die Verhandlungen seien eine Einbahnstraße, von der die armen Länder exklusiv profitieren werden. Dadurch sind falsche Erwartungen geweckt worden. Die Liberalisierung von Handelsschranken ist immer eine Sache der Gegenseitigkeit.

Ist die aktuelle Welthandelsrunde darum ins Stocken geraten?

Nicht nur. Die Entwicklungsländer tragen zwar einen Teil der Schuld, weil sie in einigen Bereichen zu viel verlangt haben, aber die EU und die USA mit ihren hohen Agrarsubventionen haben selbst einen sehr großen Anteil an der jetzigen Situation. Die Europäische Union ist zwar dabei, ihr Agrarsystem zu reformieren, aber das reicht noch nicht. Auch die USA müssen ihre hohen Landwirtschaftssubventionen dringend herunterfahren. Aber das dürfte in einem Wahljahr kaum passieren.

Gibt es noch eine Chance, die Welthandelsrunde, wie ursprünglich geplant, 2004 abzuschließen?

Nein, dafür sehe ich absolut keine Chance. Mit etwas Glück schaffen wir es bis 2006. Aber das geht nur, wenn alle zu mehr Kompromissen bereit sind als bisher.

Wer muss den ersten Schritt tun?

Alle müssen sich der Wichtigkeit der Verhandlungen bewusst werden. Es muss eine Übereinkunft geben, dass Export-Subventionen gestoppt werden müssen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die Europäer den ersten Schritt alleine unternehmen werden. Auch andere, wie die USA und einige Entwicklungsländer, müssen sich bewegen.

Wird es nach der EU-Osterweiterung im Mai nicht noch viel schwieriger, in diesen Fragen eine Einigung zu erzielen?

Vielleicht. Aber letztlich baut die EU auf der Idee offener Märkte auf. Eine Politik der geschlossenen Grenzen würde dem Geist der Gemeinschaft widersprechen. Wir können uns kein neues Zeitalter des Protektionismus erlauben.

Was haben arme Länder davon, wenn sie ihre Märkte für die reichen Länder öffnen?

Unterlassen sie es, bestrafen sie ihre eigene Bevölkerung. Damit meine ich nicht nur eine ausbleibende wirtschaftliche Entwicklung. In Ländern mit Handelsrestriktionen sind die Preise von einfachen Grundversorgungsmitteln meist höher als in vergleichbaren Staaten, worunter in erster Linie die Armen leiden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Ägypten und Südkorea war 1955 ungefähr gleich. Heute ist das BIP von Südkorea sechsmal so hoch wie das von Ägypten. Handel hat viel damit zu tun.

Ist Freihandel für jedes Land gut?

Nein. Ich glaube nicht, dass es für alle Länder gut sein kann, über Nacht freie Märkte und offenen Wettbewerb einzuführen. Aber ich glaube an den Prozess der Globalisierung und der echten wirtschaftlichen Liberalisierung. Und ich glaube, dass es einige Länder gibt, die davon weit mehr als bisher profitieren könnten.

Warum haben dann globalisierungskritische Gruppen wie Attac so einen enormen Zulauf?

Weil ihre Ziele ehrenwert erscheinen und ihre Rhetorik sehr einfach ist. Attac und andere sind darin erfolgreich gewesen, den Globalisierungsdiskurs in zwei Seiten zu teilen – auf der einen Seite die profitgierigen Kapitalisten und auf der anderen die armen, ausgebeuteten Entwicklungsländer, für die sie sich angeblich einsetzen. Das leuchtet zwar vielen ein, die Realität sieht aber anders aus. Schauen Sie sich das weltweite Wirtschaftswachstum der vergangenen 20 Jahre an. Der Anteil der Entwicklungsländer daran ist signifikant gewachsen, ebenso wie der durchschnittliche Wohlstand in diesen Ländern stark gestiegen und die Armut zurückgegangen ist. Globalisierung ist die Chance, gleiche Möglichkeiten im globalen Handel zu haben und nicht von den Märkten des reichen Nordens ausgeschlossen zu werden.

Dann hätten die bitterarmen Länder der Südsahara-Zone also einfach ihre Märkte öffnen müssen, und schon hätten Unternehmen investiert und ihnen Wohlstand gebracht?

Nicht unbedingt. Diesen Ländern fehlt die nötige Infrastruktur, um an der Globalisierung teilzunehmen. Länder wie China, die diese Infrastruktur haben und sich entschieden haben, ihre Märkte zu öffnen, sind dagegen damit gut gefahren.

Und was passiert mit den anderen?

Globalisierung ist nicht die Antwort auf alle Probleme. Sie befreit Industrieländer nicht von ihrer Verantwortung, arme Länder durch Entwicklungshilfe zu unterstützen. Aber wer glaubt, dass die ganze Idee der Globalisierung schlecht ist, liegt völlig falsch. Es gibt immer Leute, die das marktwirtschaftliche System kippen wollen, weil nicht alles nach ihren Vorstellungen verläuft.

Warum leben noch so viele Länder in Armut?

Viele haben einfach ineffiziente Regierungen und nichtfunktionierende politische Systeme. Das Ergebnis ist, dass sich Investoren zurückhalten.

Wie kann man kontrollieren, dass globale Unternehmen sich auch in armen Ländern an Arbeits- und Umweltstandards halten?

Der effektivste Kontrollmechanismus ist Transparenz. Er sollte auch für Nichtregierungsorganisationen eine wichtigere Rolle spielen. Unternehmen sollten ihre ethischen und sozialen Standards regelmäßig im Aktionärsbericht veröffentlichen. Unterschätzen Sie nicht das Verlangen des Kapitalmarkts nach Transparenz. Es setzt einen starken Anreiz, ethische Standards einzuhalten. Aktionäre und Fondsgesellschaften spielen hier eine zunehmend wichtige Rolle.

Was wäre die Alternative zur Welthandelsorganisation WTO, unter deren Dach die Welthandelsrunde verhandelt wird?

Anarchie in der Handelspolitik. Die Folge wären Wirtschaftskonflikte. Und diese würden die Position der armen Länder noch mehr schwächen. Sie brauchen ein System, welches auf Regeln und nicht dem Recht des Stärkeren basiert. Der Schlichtungsmechanismus der WTO ist zentral, um die Interessen dieser Länder zu schützen.

Auch in der EU funktioniert die Zusammenarbeit im Moment nicht gut – auf eine Verfassung konnte man sich nicht einigen, beim Stabilitätspakt herrscht offener Streit zwischen Brüssel und den Mitgliedsländern. Was ist das Problem?

Die Europäische Union ist in einer Krise, seitdem die Mitgliedsländer begonnen haben, direkte Regierungskontakte gegenüber der Abstimmung in den europäischen Institutionen vorzuziehen. Dies hängt damit zusammen, dass innenpolitische Fragen wichtiger geworden sind. Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat sind genauso unerwünscht wie eine starke Rolle der Kommission. Es fehlen starke proeuropäische Stimmen.

Müssen die von der Kommission kommen?

Zu einem Teil, aber am Ende des Tages müssen die Mitgliedsstaaten dies tragen. In den vergangenen Jahren haben sie der EU immer wieder die Schuld für ihre eigenen strukturpolitischen Fehler gegeben. Mit allem, was aus Brüssel kam und gut lief, haben sie sich dann selbst geschmückt. Gleichzeitig handeln die Mitgliedsstaaten immer mehr bilateral, wie dies jetzt Frankreich, Deutschland und England bei ihrem bevorstehenden Treffen am 18. Februar in Berlin vorexerzieren. Europa funktioniert aber nicht auf der Basis kleiner exklusiver Gesprächszirkel. Der einzige Weg nach vorne ist die Entwicklung gemeinsamer politischer Ziele über die EU-Institutionen. „Europa“ ist das nobelste Ideal, das der Kontinent je hatte. Und jetzt lassen wir zu, dass es scheitern könnte.

Was muss passieren?

Wir müssen wieder die Führung übernehmen und für Europa kämpfen. Wir brauchen einen neuen Anstoß für mehr Integration. Deutschland nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Wenn wir nicht endlich eine positive Debatte unter Einschluss der Bevölkerung führen, wird die öffentliche Meinung immer feindlicher werden.

Steht die EU vor dem Stillstand, weil die Institutionen nicht vor der Osterweiterung reformiert wurden?

Ja, zu einem Teil. Das ist wie eine Fusion von zwei Unternehmen, ohne dass man vorher überlegt hätte, wie die Integration organisiert werden soll und wie es danach weitergeht. Die Verfassung sollte weitestgehend so implementiert werden, wie sie vom Konvent vorgeschlagen wurde.

Kann die erweiterte EU ohne mehr Geld funktionieren?

Nein. Diese Debatte ist eine Schande. Beiträge von 1,24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf einen Prozentpunkt zu reduzieren, wie Deutschland das vorhat, ist gerade dann nicht nachvollziehbar, wenn Sie die positiven wirtschaftlichen Impulse betrachten, die jede Erweiterungsrunde mit sich gebracht hat. Das Budget zu reduzieren, wäre kontraproduktiv. Außerdem steht dies im Widerspruch dazu, dass wir unbedingt eine funktionierende europäische Außenpolitik brauchen – auch dies kostet Geld. Wir haben im Moment alle Komponenten einer europäischen Katastrophe: institutionelle Lähmung, fehlende Führung und einen Mangel an finanziellen Mitteln.

Was sind die Folgen?

Es besteht eine große Gefahr, dass ein Europa der zwei Geschwindigkeiten entsteht. Dies wäre das Ende des Gründungsideals der europäischen Union. Es ist zu wünschen, dass alle Mitgliedsländer gemeinsam weiterkommen.

Also eine düstere europäische Zukunft?

Nicht unbedingt. Ich glaube, dass es während der irischen Präsidentschaft noch eine Chance gibt, doch noch eine Verfassung zu beschließen. Wie groß diese Chance ist, kann ich aber nicht sagen. Am Ende des Tages wird es eine Frage von politischer Vision und Führung sein.

Das Gespräch führten Maren Peters, Flora Wisdorff , Ulrike Scheffer und Bernd Hops.

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