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Wirtschaft: „Wir müssen uns um sozial Schwache kümmern“

McKinsey-Deutschland-Chef Jürgen Kluge über frühkindliche Bildung, gute Kindertagesstätten und ungleiche Chancen

Herr Kluge, das Wort Humankapital wurde zum Unwort des Jahres 2004 gewählt. Verstehen Sie das?

Überhaupt nicht. Das Konzept reduziert Menschen ausdrücklich nicht auf eine ökonomische Nummer, wie man uns weismachen will. Humankapital zielt auf alle Fähigkeiten und Erfahrungen, betrachtet den Menschen als Ganzes. Da wurde bei der Wahl wohl etwas gehörig missverstanden.

Warum sorgen Sie sich ums Humankapital – als einer der führenden Unternehmensberater werden Sie immer die Leute bekommen, die Sie haben wollen?

In der Regel ist das so. Aber auch wir müssen feststellen, dass sich junge Mütter gegen eine Karriere bei uns entscheiden, weil sie Arbeit und Kinderbetreuung nicht unter einen Hut bringen können. Darüber haben wir uns Gedanken gemacht. Wir gründen zum Beispiel Kinderkrippen in unseren Büros.

Kann McKinsey überhaupt mit Kindern?

Sie würden staunen, wenn Sie wüssten, wie viele Kinder meine Kolleginnen und Kollegen haben. Wir schätzen Professionalität. Deshalb suchen wir überall, wo wir eine Krippe anbieten, nach dem Partner mit den besten Ideen und Konzepten für die optimale Kinderbetreuung. In München ist das zum Beispiel die Arbeiterwohlfahrt.

… die den McKinsey-Kindern Englisch, Französisch und das Quadratwurzelziehen beibringt?

Unsinn. Wir wollen zuerst einmal McKinsey als Arbeitgeber für Frauen attraktiver machen. Zweitens glauben wir, dass der Mangel an Kinderkrippenplätzen einer der Hauptgründe ist, warum Frauen in dieser Gesellschaft sich gegen Kinder entscheiden. Und drittens wollen wir einen Standard setzen, wie eine Kindertagesstätte geführt werden kann.

Und wie sieht der aus?

Es geht es nicht darum, aus Kindern Lernmaschinen zu machen. Aber was spricht dagegen, dass wir so früh wie möglich Begabungen entdecken und spielerisch fördern? Warum darf in Deutschland ein Kind erst lesen und rechnen lernen, wenn es sechs ist? Man kann Kinder in diesem Alter nicht überfordern, man kann sie nur unterfordern. Kinder wollen lernen, die Welt verstehen.

Wann hat McKinsey die Kinder entdeckt?

Wir haben uns sehr früh, noch weit vor Pisa, Gedanken über eine umfassende Bildungsreform gemacht. Bildung ist neben Arbeit, Rente und Gesundheit eines der wichtigsten Themen der Reformagenda, vielleicht sogar das wichtigste überhaupt. Wir fangen ganz unten an, bei der frühkindlichen Bildung. Dort werden die Weichen für die Entwicklung des Menschen gestellt. Was wir da versäumen oder falsch machen, tragen viele Kinder ein Leben mit sich herum.

Das Kernproblem ist aber doch nicht, dass die Kinder in deutschen Kindergärten mehr spielen als lernen.

Es gibt nicht nur zu wenig Betreuungsmöglichkeiten, die vorhandenen sind auch noch sozial höchst selektiv. Kinder aus schwachen Milieus, vor allem die aus Migrantenfamilien, haben es am schwersten, wo doch gerade sie am meisten Unterstützung brauchen. Das sind die Kinder, die die Chancen, die diese Gesellschaft bietet, nie nutzen können. Und umgekehrt sind das Menschen, die der Gesellschaft nie mit dem, was sie wirklich leisten könnten, zur Verfügung stehen. Und was kann man dagegen tun?

Wir wissen es noch nicht genau, es gibt kein Allheilmittel. Aber es darf nicht sein, dass Bildung in diesem Land buchstäblich von Anfang an ein Thema der sozialen Herkunft bleibt. Wir starten heute im Rahmen unserer Initiative ,McKinsey bildet’, die sich nun ausschließlich dem Thema frühkindliche Bildung widmet, einen Wettbewerb, an dem ehrenamtliche Initiativen zur frühkindlichen Integration von Problemgruppen teilnehmen können. Wir erhoffen uns davon Aufschlüsse über Erfolg versprechende Wege, wie die Spirale nach unten durchbrochen werden kann.

Brauchen wir eine Kindergartenpflicht für sozial Schwache und Migrantenkinder?

Mir wäre der Ansatz zu dirigistisch. Man müsste ja sehr früh entscheiden, was ein so genannter Risikohaushalt ist und wer ein Problemkind wird. Das ist sehr problematisch. Ich glaube allerdings, dass wir in den sozial schwachen Milieus eine wesentlich intensivere und längere Betreuung brauchen.

Können die Erzieherinnen das leisten?

Wir sind das einzige Land in Europa, das für seine Erzieher und Erzieherinnen noch nicht einmal eine Fachhochschulausbildung vorsieht. Das finde ich falsch. Und es ist sicher auch falsch, wenn die Betreuungsschlüssel von Kindertagesstätten in sozialen Brennpunkten dieselben sind wie die von bürgerlich geprägten Kindergärten auf dem Land.

In Sachsen-Anhalt wurde in einem Volksentscheid beschlossen, dass Kinder arbeitsloser Eltern keinen Anspruch mehr auf eine Vollzeitbetreuung in einem Kinderhort haben sollen. Finden Sie das richtig?

Alarmierend finde ich, dass sich kaum jemand an diesem Entscheid beteiligt hat. Es hat nur wenige interessiert. Das zeigt doch, dass das Thema Bildung noch lange nicht da ist, wo es hingehört.

Und die Kinderbetreuung für die Kinder von Arbeitslosen?

Wenn man auf dem Standpunkt steht, dass in diesem Land im Prinzip die Familien funktionieren und ihre Kinder ordentlich betreuen, dann muss man natürlich fragen, warum der Staat arbeitslosen Eltern auch noch den Ganztags-Kindergartenplatz bezahlen soll. Steht man aber auf dem Standpunkt, dass gerade in den sozial schwachen Milieus die Familie nicht mehr in Ordnung ist, muss der Staat überinvestieren – und dann im Zweifel mehr öffentliche Betreuung zur Verfügung stellen. Ich bin sicher, dass es Regionen und Stadtteile in Deutschland gibt, in denen das zutrifft.

Der Staat soll also viel mehr Einfluss auf das Leben von Familien haben dürfen?

Keinen Einfluss auf das Privatleben der Familien, aber Einfluss auf bestimmte Standards der Tagesstätten. Mehr darf er nicht tun. Erreicht werden müssen diese Standards von den Tagesstätten selbst, da wo die Menschen die Kinder wirklich kennen. Ich könnte mir etwa vorstellen, dass man diese Einrichtungen zertifiziert. Dies führt dann zu mehr Qualität.

Und am Ende gehen dann die Akademikerkinder in die Kindergärten, die einen guten Ruf haben – zum Beispiel in die von McKinsey – die Kinder aus den schwachen Milieus gehen dahin, wo noch Platz ist und es nichts kostet. Und wieder wird das zementiert, was das Bildungssystem insgesamt belastet: Kinder aus sozial schwachen Familien haben die schlechtesten Chancen.

Deshalb wäre ich dafür, gerade in diesen Milieus etwas Besonderes zu tun. Das wäre die richtige Aufgabe für den Staat. Die Starken können sich selbst helfen.

Und wenn der Staat nichts tut?

Der Wohlstand in diesem Land, unser Sozialsystem hängt vor allem von der Leistungskraft junger Menschen ab, von denen immer weniger immer mehr ältere Menschen zu versorgen haben. Schlechte Bildung heißt wenig Wissen. Ohne Wissen gibt es keine Innovation, ohne Innovationen kein Wachstum. Was das wiederum bedeutet, sieht man an der Entwicklung unseres Landes in den vergangenen Jahren: weniger Wohlstand. Der Staat muss die Voraussetzung dafür schaffen, dass sich Talente auf allen Gebieten optimal entwickeln können.

Wie viel Potenzial haben wir?

Der Faktor zwei ist drin. Das heißt, wir könnten als Land doppelt so gut ausgebildet, und doppelt so produktiv sein wie bisher. Wir könnten doppelt so viel aus uns machen.

Heißt das auch doppelt so viel Wachstum?

Leider nein. Wenn Sie sehen, in welchem Tempo beispielsweise Indien und China beim Bildungsstand ihrer Bevölkerung aufholen, kann man schon sehr nachdenklich werden bei den Chancen, die wir selbst als Wissensgesellschaft haben.

Dann lassen wir die schlauen Chinesen und die Inder doch einfach einwandern.

Wir brauchen beides. Die Einwanderung und die Bereitschaft, unsere eigenen Ressourcen zu bilden.

Halten Sie Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit für ein Bildungsproblem?

Ich habe schon den Eindruck, dass die Argumente, die aus dieser Ecke kommen, nicht durch außergewöhnliche Intelligenz glänzen.

Das Gespräch führte Ursula Weidenfeld.

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