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Wirtschaft: Wolfgang Mariss

(Geb. 1958)||„Wenn ich mal sterbe, muss es was von Pink Floyd sein.“

„Wenn ich mal sterbe, muss es was von Pink Floyd sein.“ Wolle auf dem Weg zur Arbeit. Er hält mit dem Wagen an einer Ampel, als sein Handy klingelt. Die Ampel springt auf Grün. Wolle greift, während er telefoniert, umständlich an den Schaltknüppel. Es gibt ein lautes Krachen. Es ist nicht das Getriebe, wie Freund Carsten neben ihm denkt. Es ist Wolles Arm.

Der Krankenhausflur ist voller Leute. Nach dem Röntgen müssen Wolle und Carsten stundenlang warten. Die Tür geht auf, ein Arzt tritt auf die beiden zu: Herr Mariss, ich muss Ihnen was sagen. Sie haben Lungenkrebs und Metastasen in den Knochen, und daran werden Sie sterben.

Wolle und Carsten schauen sich an. Die Leute schauen sie an. Der Arzt geht.

Die Beerdigungsfeier, Wochen später, findet statt im Saté-Haus, einem Indonesier am Winterfeldplatz. Hier war mal das Sexton, eine wüste Rockerkneipe. Die achtziger Jahre, die Zeit der besetzten Häuser. Wolle stand hinterm Tresen, hat Bier gezapft. Jenny, die Hausbesetzerin, und Wolle, der Rocker. Was eigentlich nicht zusammenpasst, wie Jenny meint. Nächtelang haben sie sich in der Kneipe kräftig gestritten, und eine Freundschaft ist daraus geworden.

Jenny hat Zettel kopiert mit Wolles Foto drauf und im Kiez an Bäume und Hauswände geklebt. Erstaunlich viele sind gekommen. Sie haben Wolle, wie er es sich gewünscht hat, mit Pink Floyd zu Grabe getragen, „Shine on You Crazy Diamond“, „Wish You Were Here“.

Lasst uns auf ihn trinken. Er wollte nicht, dass wir traurig sind. Große Biergläser stoßen in der Mitte des Tisches zusammen. Auf Wolle!

Die Kumpel aus dem Motorradclub Bielefeld in ihrer Lederkluft, die extra zur Beerdigung angereist sind. Freunde aus der Nachbarschaft und die von früher aus dem Sexton. Das ganze Lokal ist voll. Und wieder stoßen die Gläser zusammen. So fest, dass eines zu Bruch geht. Auf Wolle!

Neben dem Saté-Haus befindet sich der Weiße Salon. Ein Kiosk, der Tag und Nacht geöffnet hat. Hier hat Wolle nach der Arbeit mit Carsten sein Bierchen getrunken. Wolles Pic-up mit einem Kasten Bier auf der Ladefläche, die Musik voll auf, so parkten sie im Sommer vorm Weißen Salon in der zweiten Reihe und haben den Feierabend gefeiert. Nachbarn kamen vorbei, stellten sich dazu, stießen mit ihnen an. Den amerikanischer Kleinlaster hat sich Wolle von dem Geld gekauft, das er bei seinem Auftritt in einer Fernseh-Quizshow gewonnen hatte. Seine Spezialität: Rockmusik und ferne Länder.

Am Winterfeldplatz hat ihn jeder gekannt, und wenn es nur vom Sehen war. Eine mächtige Erscheinung. Hoch gewachsen, breitschultrig, kräftig, ordentlicher Bierbauch. Die Löwenmähne, als sei er gerade aus dem Bett gekrochen. Ein Urgestein. Ein Fossil.

Heutzutage wird hier fein diniert, man sitzt schick in den Straßencafés und gibt sich gepflegt und niveauvoll in der Konversation. Teure Sportwagen, die auffällig geparkt werden. Wolle, der letzte Rocker vom Winterfeldplatz.

Gegenüber von Saté-Haus und Weißem Salon hat Wolle gewohnt. Drei große Zimmer hoch oben mit Eckbalkon und freier Sicht bis hin zum Winterfeldplatz. Es war seine erste Wohnung, als er nach Berlin kam, und seine letzte.

Am Eingang eine lange Kleiderstange. Wolles Lederjacken. Sie hängen dort und werden dort noch lange hängen. Als wäre er nur kurz fort gegangen. Dazwischen, aus schwarzem Leder, der Wehrmachtsmantel seines Vaters aus dem Zweiten Weltkrieg. Wolle entschied sich für dieses Erbstück, als die Verwandtschaft nach dem Tod des Vaters sich in die Haare kriegte. Auf den schwer umkämpften Rest hat er dankend verzichtet.

In mächtigem Bilderrahmen der Opa in der Uniform aus dem Ersten Weltkrieg samt Pickelhaube. Opas Bierkrug, reich verziert mit kaiserlichem Dank: „Wer treu gedient hat seine Zeit, dem sei ein voller Krug geweiht. Musketier Mariss.“

Als Wolle zum Wehrdienst sollte, ging er nach Berlin. Ins ummauerte Berlin. Er liebte das Freiheitsgefühl des Easy-Riders. Auf einem fetten Motorrad die langen Haare im Fahrtwind wehen lassen. Mädel hinten drauf, alles hinter sich und die Spießer Gummi riechen lassen.

Eine Vitrine voller Harley-Davidson-Artikel hängt im Flur. Modell-Motorräder, Ansteckabzeichen. Auf dem großen Foto, das ist Wolle auf seiner Harley. Eine ausrangierte Polizeimaschine, 40 Jahre alt. Aus Belgien hat er sie damals geholt und einen hohen Lenker dran gebaut.

Mit seiner Frau Dagmar lebte Wolle 25 Jahre in dieser Wohnung, ohne verheiratet zu sein.

Vor zwölf Jahren kam Tochter Selina dazu.

Kennen gelernt hat Wolle die Dagmar in Bad Pyrmont. Sie war dreizehn und durfte nur raus mit ihrer kleinen Schwester im Kinderwagen. Wolle passte aufs Kind auf. Während sie mit Wolles Freund, ihrer ersten Liebe, auf der Parkbank saß und ausprobierte, was so in der Bravo stand.

Auf seinem ersten Moped, einer Puch, war Wolle der King in Bad Pyrmont. Alle Mädchen, und auch die Jungs, schauten ihm nach. Einmal fragte er die Dagmar, ob sie mal hinten aufsteigen könne, um mit ihm ein paar Runden durch den Ort zu drehen, er wollte seine Freundin eifersüchtig machen. Es funkte zwischen den beiden, und sie blieben 33 Jahre zusammen. Wolle ging nach Berlin und studierte Architektur. Dagmar folgte ihm nach dem Abitur.

Lange Zeit versuchten sie vergeblich, ein Kind zu bekommen. Dann bereisen wir eben die Welt, sagten sie sich. Und wenn wir wieder da sind, schaffen wir uns einen Hund an.

El Comandante wurde Wolle gern auf Reisen genannt. Er kam in den Hotels an und schloss gleich Freundschaften. Dicke Fotoalben voller Erinnerungen. Die Reisen mit den Bikern in den Siebzigern, mit dem Motorradclub „Spiders“ zu den Rock-Festivals und an die Badeorte. In Zelten haben sie geschlafen, zwischen den Dünen. Die aufgemotzten Maschinen, die Rockerkluft, die wüsten Matten, sah aus wie Klein-Woodstock. Und wenn sie die Landstraßen entlangdonnerten, auf ihren Feuerstühlen mit den hochgezogenen Lenkern, das machte schon Eindruck.

Irgendwann war Schluss. Wolle und Dagmar trennten sich, wohnten aber weiter zusammen. Dagmar ging wieder aus, lernte einen Äthiopier kennen. Zu der Zeit waren gerade viele von ihnen am Winterfeldplatz. Sie wurde schwanger, und er sagte: Du kannst mich ja anzeigen. Wolle erfuhr von dem freudigen Ereignis durch Barbarella, eine geschwätzige Nachbarin und Mutter von sieben Kindern von vier Männern. Wütend lief Wolle die Treppen hoch, riss Dagmar, die gerade fernsehend auf dem Sofa lag, das T-Shirt hoch und untersuchte ihren nackten Bauch.

Es stimmt, sagte er. Raus aus meiner Wohnung, aber schnell. Ich will dich nicht mehr sehen. Wo soll ich denn hin, sagte Dagmar unter Tränen. Ich habe doch nichts anderes.

Wolle bekam sich wieder in den Griff, sagte: Lass uns ein Bier trinken gehen und über alles reden. Als sie die Kneipe verließen, nahm er Dagmar in den Arm und sagte: Du, das schaffen wir schon.

Die Beamten auf dem Amt schauten ungläubig, als Wolle seine Vaterschaft erklären wollte und dachten sich ihren Teil. Zwei weiße Eltern saßen ihnen da gegenüber mit ihrer dunkelhäutigen Tochter.

Wolle brachte Selina zur Schule und holte sie ab. Er machte mit ihr Hausaufgaben, ging zu den Elternabenden und engagierte sich in Schulgremien. Er brachte sie ins Bett und morgens wachte er mit ihr auf. Dagmar ging arbeiten. Zusammen bereisten sie Afrika und zeigten Selina den anderen Teil ihrer Wurzeln.

Nach Wolles Tod staunten andere Eltern, als die weiße Dagmar sich als Selinas Mutter in der Schule vorstellte.

Die letzten Jahre betrieb Wolle einen Baustoffhandel übers Internet. Er nutzte seine Beziehungen und Kenntnisse, die er zuvor als angestellter Baustoffhändler erworben hatte. Freund Carsten machte mit. Sie holten Baustoffe ab und lieferten sie aus. Bis zu dem Tag, an dem sie an der Ampel standen und das Handy klingelte.

Wolle war wie ein Bruder für mich, sagt Carsten und weint, mehr als ein leiblicher Bruder, viel mehr. Morgen werde ich an sein Grab gehen und ihm eine Flasche Bier eingraben. Als Wegzehrung. Und einen schönen Schluck werde ich auf ihn trinken. Auf Wolle.

Auf dem Friedhof, sagt Dagmar, konnten wir uns aussuchen, ob wir ganz hinten die Grabstelle nehmen. Viele, die wohl an Aids gestorben sind. Die Winterfeldplatzmischung. Gegenüber ein Grabstein auf dem steht: Andrea, lebte in einen falschen Körper. Nicht, dass wir was gegen Transvestiten hätten, aber Wolle hätte sich wohl nur mit ihr gestritten. Jetzt liegt er am Hügel und hat den Überblick. Schaut sich schon mal an, wen er jetzt, in seinem neuen Kiez, so um sich hat.

Eckard Kipping

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