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Wirtschaft: Wolfram Beck

Geb. 1930

Am besten wär’s, die Worte wären beständig wie die Steinplastiken. Als der Papst die goldene Skulptur entgegennimmt, macht Wolfgang Beck eine Ausnahme. Eigentlich mag er die Filmpreis-Trophäe nicht. Sie ist wirklich nicht seine beste Arbeit, die Proportionen stimmen nicht. Er hat auch kaum Geld dafür bekommen. Jetzt sitzt der Bildhauer aber doch vor dem Fernseher und sieht sich die Verleihung der Goldenen Kamera an. Sein Werk in den Händen des Papstes. Für einen Moment vergisst er die Proportionen und ist stolz. Es ist das Jahr 1979, Beck geht auf die Fünfzig zu.

Mit achtzehn ist er bei seiner Mutter ausgezogen und hat auch gleich die DDR verlassen. In einer Essener Zeche und im Hamburger Hafen hat er sein erstes Westgeld verdient. Unter echten Menschen, wie er sagt. Er war glücklich damals.

Sein Studium an der Akademie der Künste, Mitte der fünfziger Jahre finanziert er selbst. Zusammen mit zehn anderen Studenten sitzt er im Lotto-Haus in der Brandenburgischen Straße und zählt Spielscheine aus. Weil es nicht genug davon gibt und niemand seine Arbeit verlieren will, zählen sie dieselben Scheine mehrmals aus. An guten Tagen schaffen sie vier Durchgänge.

Den Sinn dieser Arbeit stellt er nicht in Frage. Ihr Sinn ist: Er kann sich ein großes Atelier leisten, für 400 Mark im Monat. Er geht selten aus und legt keinen großen Wert auf Klamotten und Essen. Er ist gern alleine. Kollegen lädt er in sein Atelier ein. In den drei Jahren, in denen er im Lotto-Haus arbeitet, lernt er seine wichtigsten Freunde kennen. Und seine Frau. Auch das ist eine glückliche Zeit. Die Freunde sind bis zuletzt dieselben. Mit der Zeit ändert sich nur, wer mit wem liiert ist.

Er nimmt alles sehr genau, sagen seine Freunde. Leute, die ihn nicht so gut kennen, halten ihn für einen peniblen Sonderling. Einen, der noch bei der größten Hitze einen dicken Pulli dabei hat, immer die schwarze Baskenmütze auf dem Kopf und den speckigen Zigarillostummel im Mundwinkel. Einen, der im Theater den Griff der Toilettentür nur mit Taschentuch anfasst.

Wenn er am Frühstückstisch Zeitung liest, liegt ein Lexikon in Reichweite. Es kommt vor, dass er sich darin festliest und die Zeitung vergisst. Die Gedanken, die er äußert, sollen ebenso präzise sein wie seine abstrakten Skulpturen und Zeichnungen. Er sagt nur Sätze, von denen er glaubt, sie könnten wenigstens eine Weile lang wahr sein. Eigentlich sollen sie beständig sein wie seine Steinplastiken.

Kein Wunder, dass er die vorlaute Berliner Art nicht mag: die Schnodderigkeit, die Welterklärung, den Witz. Jederzeit würde sich auf der Straße einer finden, der ihm seine Kunst erklärte. Dabei gibt es dazu nichts weiter zu sagen als: gut oder schlecht. „Abstrakte Kunst ist abstrakte Kunst. Sie wirkt. Oder sie wirkt nicht. Jedes Wort wäre gelogen.“ So sieht er das.

Für den schnellen Berliner Witz ist er, der Vogtländer, nicht gemacht. Das sagt er selbst. Er ist klug, aber nicht schlagfertig. Er liebt trockenen, präzisen Humor. Preußischen wie den von Loriot. Oder wie den seiner Frau, sie stammt aus einer großbürgerlichen preußischen Familie.

Seiner Frau wegen ist Berlin seine Heimat geworden. Sie kommt mit seiner grüblerischen Art zurecht und damit, dass er sich oft zurückzieht und sich von Festen lieber erzählen lässt als selbst hinzugehen. Sie reisen und sehen viel. Museen, Kathedralen, Orte, die durchdrungen sind von Geschichte. Sie haben Ferienhäuser, eines davon in Südfrankreich.

Seine Frau, die Freunde und sein Atelier im vornehmen Grunewald, in dem sie oft zusammensitzen und reden und trinken – das ist die Art von Heimat, die er braucht. Das vogtländische Greiz, wo er seine Jugend verbracht hat, meidet er. Er will die alten Erinnerungen behalten, die Wirklichkeit, fürchtet er, könnte ihn enttäuschen.

Lange wollte Wolfram Beck keine Kinder. Er befürchtete, die Sorge um sie würde ihn verrückt machen. Dann gibt es doch eine Tochter und einen Sohn. Der Junge ist dreizehn, als ein Motorrad ihn anfährt. Er stirbt. Wolfram Beck ist ein perfekter Gastgeber, er fragt, ob alle genug zu trinken und zu essen haben. Er hört Menschen lange zu, er fragt, wie er helfen kann. Aber selbst um Hilfe bitten kann er nicht. Um den Schmerz zu verwinden, vergräbt er sich im Atelier, grübelt mehr und trinkt sehr viel mehr Wodka als sonst.

Irgendwann entscheidet er sich für das Leben. Der Gram hat tiefe Furchen um die Augen hinterlassen und den grauen Vollbart gebleicht. Aber ein alter Satz gilt wieder: Die Proportionen müssen stimmen, in der Kunst wie im Leben. Mühsam wird er wieder jener Wolfram Beck, der im Urlaub beim Frühstück unruhig ist, wenn nicht feststeht, welche Museen er an diesem Tag besuchen wird.

Als er beerdigt wird, stimmen die Proportionen. Sie spielen den Radetzkymarsch. Ihm zuliebe mühen sich die Frau und die Freunde, ihre Trauer zu beherrschen. Ein Mensch ist gestorben. Und? Schließlich hat er gelebt.

Marc Neller

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