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Wirtschaft: Zehn Jahre Deutsche Einheit (7): Wohlstandsgrenze hinter der Autobahn

Wer auf einer Landkarte den Speckgürtel rund um Berlin ausschneiden sollte, der hätte keine Probleme. Immer schön entlang des fast 200 Kilometer langen Autobahnringes müsste die Schere geführt werden.

Wer auf einer Landkarte den Speckgürtel rund um Berlin ausschneiden sollte, der hätte keine Probleme. Immer schön entlang des fast 200 Kilometer langen Autobahnringes müsste die Schere geführt werden. Im westlichen und südlichen Umland könnte der Abstand zur Autobahn einige Millimeter mehr als in den anderen Himmelsrichtungen betragen. Hier finden sich Gewerbegebiete, Einkaufszentren und neue Wohngebiete auch schon mal etwas weiter weg vom eigentlichen Speckgürtel. Dennoch ist auch hier die Grenze zwischen Aufschwung sowie Stagnation oder sogar Niedergang mühelos erkennbar.

"Für unsere Situation gibt es keinen besseren Begriff als Speckgürtel", sagt der Direktor des Amtes Wustermark, Horst Pohl. Sein Gebiet reicht von der Stadtgrenze mit Spandau entlang der B 5 bis hinter den Autobahnanschluss Wustermark. Wo heute lange Fahrzeugschlangen und neue Bauten aller Art das Bild bestimmen, herrschte vor zehn Jahren weitgehend Stille. Im Schatten der Mauer zu West-Berlin passierte nicht viel. Große Gebiete hatten die sowjetischen Streitkräfte in Beschlag genommen. In den verschlafenen Dörfern war die Landwirtschaft der Haupterwerbszweig. Industrie und größeres Gewerbe lohnten sich nicht, da die Lastwagen nach Ostberlin immer um die Mauer herumfahren hätten müssen.

Heute sitzen die Menschen mitten im Speckgürtel mit allen Vor- und Nachteilen, wobei nach Meinung der abendlichen Gäste im Wustermarker Restaurant Tusk die guten Seiten überwiegen. "Wir haben Arbeit, neue Häuser, neue Einkaufszentren, neue Straßen", schwärmt ein Mittvierziger. Doch wie sich herausstellt, stammt kein einziger Mann der Runde aus der Gegend. Alle sind erst in den vergangenen Jahren hergezogen - aus Berlin, Düsseldorf, Rathenow und einigen Dörfern jenseits des Speckgürtels. "Hier gibt es Jobs und die Grundstückspreise sind moderat", sagt ein Neu-Wustermarker. Im Computer des Amtsdirektors stehen die exakten Zahlen. Allein zwischen 1995 und 1999 ist die Einwohnerzahl von Wustermark von 1531 auf 2556 gestiegen, das Dorf Elstal bekam fast 400 Menschen dazu. Der Zuwachs ist längst nicht gestoppt. Immer mehr Häuser werden bezogen - die Quadratmeterpreise für baureife Grundstücke liegen lediglich zwischen 110 und 230 Mark. Aber auch die neuen Mietwohnungen am Rande des Olympischen Dorfes von 1936 sind gefragt. Vor allem Berliner schätzen offenbar das grüne Umfeld und die Nähe zum riesigen Einkaufszentrum Havelpark oder zum unlängst eröffneten Designer Outlet Center "B 5".

Arbeitslosenquote unter zehn Prozent

Die Arbeitslosenquote liegt im Amtsbereich bei unter zehn Prozent, wobei Firmen im Güterverkehrszentrum trotz der vielen Pendler aus Berlin und den Dörfern jenseits der Autobahn noch Arbeitskräfte suchen. Ganz anders sieht es hinter dem Speckgürtel aus. 22 bis 25 Prozent der arbeitsfähigen Menschen suchen im Westhavelland rund um Rathenow einen Job. Die Dörfer zwischen Nauen und Friesack etwa halten keinen Vergleich mit jenen am Berliner Stadtrand stand. Die ohnehin stark reduzierte Landwirtschaft befindet sich im ständigen Existenzkampf. Verfallene Rinderställe, aufgegebene Kultur- und Speisesäle, vor allem aber geschlossene Schulen, Läden und Dorfkneipen zeigen den Niedergang. Junge Leute kehren auf der Suche nach einem Job ihrer Heimat notgedrungen den Rücken. In den meisten Orten gleich hinter dem Speckgürtel liegt die Sterberate längst über der Geburtenrate. Einen Ausgleich durch Zuzug gibt es nur selten. 85 Prozent der neuen Einwohner Brandenburgs lassen sich im Speckgürtel nieder. In den berlinfernen Landkreisen wie Uckermark, Oberspreewald-Lausitz und Elbe-Elster nimmt die Zahl der Bewohner jährlich um jeweils 1000 Menschen ab. Das Durchschnittsalter steigt außerhalb des Autobahnringes stetig an, wenn auch von einer "Vergreisung" noch nicht die Rede sein kann.

Der Wustermarker Amtsdirektor hat eine einfache Erklärung für den Aufschwung in seinem Bereich: Eine hervorragende Infrastruktur und die Nähe zu Berlin. Viele Firmen seien allein wegen des beschränkten Platzes in der Großstadt aufs flache Lande gezogen und hätten sich dank der guten Verkehrsanbindung für das westliche Umland entschieden. Die Bundesstraße 5 werde 2001 bis Wustermark vierspurig befahrbar sein, der Zug brauche von Wustermark zum Bahnhof Zoo nur 20 Minuten. Der Hafen birgt noch große Potenziale. "Unser Aufschwung ist noch längst nicht abgeschlossen", sagt Horst Pohl. Weitere Gewerbe- und Wohngebiete würden erschlossen. Erstmalig in Brandenburg werde ein Verkehrsvorhaben sogar privat vorfinanziert. "Die Kosten für den neuen Autobahnanschluss mit seinen vielen Brücken trägt vorerst die Baufirma", erklärt der Amtsdirektor.

Wer sich allerdings die auf den ehemaligen Ackerflächen entstandenen neuen Gewerbegebiete etwas genauer ansieht, macht eine aufschlussreiche Entdeckung. Es handelt sich fast ausschließlich um Firmen der Logistikbranche. Eine Lagerhalle grenzt an die andere. Nur einige kleine Dienstleistungsbetriebe finden dazwischen noch ihr Auskommen. Industrie gibt es nicht, ganz zu schweigen von Forschungseinrichtungen.

Angesichts dieser Dominanz von Logistikunternehmen klingt das Schicksal des Rangierbahnhofes Elstal unweit der Berliner Stadtgrenze schon paradox. Die einst zu den größten Umschlagplätzen Europas gehörende Station wird wohl in Kürze endgültig geschlossen - wegen mangelnder Nachfrage. Auch die ehemals vorherrschende Landwirtschaft spielt in diesem Bereich des Speckgürtels fast keine Rolle mehr. Die Bauern dürfen die neue Schnellstraße mit ihren Traktoren nicht einmal mehr befahren. Doch der Protest hält sich angesichts der geringen Zahl von Betroffenen in Grenzen.

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