zum Hauptinhalt
Mehr als Uni. Personaler schätzen Bewerber, die praktische Erfahrung vorweisen und gesellschaftlich engagiert sind.

© Thilo Rückeis

Zeit zur Orientierung: Bevor der Ernst des Lebens beginnt

In angelsächsischen Ländern hat das „Gap-Year“ Tradition. Inzwischen entscheiden sich aber auch in Deutschland immer mehr junge Leute für eine Auszeit nach dem Abi oder Bachelor. Was sie davon haben.

Sönke Giebeler hat seine akademische Karriere bisher so straff durchgezogen, wie es sich Europas Bildungsminister nur wünschen können: Der Rheinländer hat sich nach dem Abitur im zukunftsträchtigen Fach Wirtschaftschemie an der Universität Düsseldorf eingeschrieben, die Regelstudienzeit von sieben Semestern eingehalten und seit März den Bachelor in der Tasche – mit gerade mal 23 Jahren.

Der eng getaktete Zeitplan, den Bachelorstudiengänge seit der Bologna-Reform vorgeben, ließ Giebeler nicht eben viel Raum für außeruniversitäre Aktivitäten. Seine Semesterferien verbrachte er meist mit wissenschaftlichen Experimenten im Labor, ein Praktikum war immerhin drin.

Genauso unbeirrt könnte Giebeler nun die nächste akademische Stufe angehen. „Ich kann mir gut vorstellen, Wirtschaftschemie in einem Masterstudium zu vertiefen, in Frage kämen aber auch Energiewirtschaft oder Nachhaltigkeitsmanagement“, sagt er. Alles Fächer mit Zukunft. Und wenn er sich entschiede, lieber gleich ins Berufsleben einzusteigen? Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass der Düsseldorfer schon mit seiner jetzigen Qualifikation leicht einen Job in der chemischen oder pharmazeutischen Industrie bekäme. Hervorragende Perspektiven also. Doch der Mann macht erst mal Pause.

Wie bitte? Gilt im Zeitalter perfekt durchgetakteter Lebensläufe eine Lücke nicht als Todsünde? Die unweigerlich dazu führt, dass jeder Personalleiter eine solche Bewerbung sofort in den Papierkorb wirft? Immer mit der Ruhe. Giebeler gibt sich nicht dem süßen Nichtstun hin, sondern hat sich bewusst für ein so genanntes Gap-Year entschieden. Ein Pausenjahr, in dem sich junge Leute, immer öfter auch schon direkt nach dem Abi, im In- oder Ausland freiwillig sozial, kulturell oder ökologisch engagieren.

Das Masterstudium möchte Giebeler auf jeden Fall machen. Bloß nicht sofort. Stattdessen arbeitet er bis Februar 2013 an einem Projekt in Tansania mit, für das er sich bei Weltwärts beworben hat. Das ist der Freiwilligendienst des Bundesentwicklungsministeriums. Giebeler unterstützt in Afrika die Konzeption und Umsetzung einer Anlage, mit der aus Biomasse Energie für die Bevölkerung in abgeschiedenen Regionen des Landes gewonnen werden kann. Dabei kann er sein im Studium erworbenes Wissen anwenden, ob es nun um das Aufstellen eines Liquiditätsplans geht oder um eine chemische Analyse für den Betrieb der Anlage.

Auszeit ist Reifezeit
So wie der Wirtschaftschemiker denken mittlerweile viele Bachelor-Absolventen und schieben nach dem ersten Hochschulabschluss ein Gap-Year ein, bevor sie ihr Masterstudium aufnehmen. Sie erproben nach dem verschulten Uni-Alltag die Praxis, gehen auf Reisen, verbessern ihre Sprachkenntnisse, engagieren sich in sozialen Projekten, suchen nach Orientierung für den weiteren Karriere- und Lebensweg und lassen es auch einmal zu, dass nicht jeder Tag durchgeplant ist. Die akademische Pause kann die Persönlichkeit der Absolventen reifen lassen, die in der Regel nach dem Bachelor gerade einmal Anfang zwanzig sind.

An angelsächsischen Hochschulen hat das Gap-Year eine lange Tradition. So gehört etwa der Trip ins Ausland für amerikanische College-Absolventen fast zum kulturellen Bildungsprogramm. Ein untrügliches Zeichen, dass diese Tradition in Deutschland fehlt, ist der Umstand, dass es in unserer Sprache keinen Begriff für das Gap-Year gibt. Pausenjahr? Zwischenzeit? Orientierungsphase?

Welches deutsche Wort sich auch etablieren wird: Das Phänomen Gap-Year breitet sich auch hier aus. Ursache ist der Bologna-Prozess und seine Folgen – die Zweiteilung der akademischen Ausbildung in einen grundlegenden Teil, den Bachelor, und den vertiefenden Abschnitt, den Master.

Erstens liegt es nahe, die Zäsur zwischen den beiden Phasen als Freiraum für die persönliche Entwicklung zu nutzen. Zweitens ist die Zeit nach dem Bachelor für viele Absolventen nicht nur die beste Gelegenheit, sich auszuprobieren und etwas auf die Beine zu stellen – sondern auch die einzige. Und drittens spricht für das Gap-Year: Wer den Master direkt an den Bachelor anhängt, ohne sich über seine berufliche Zukunft im Klaren zu sein, der verschiebt die kritische Phase der Orientierung zu weit nach hinten.

Was ein Perspektivenwechsel bringt

Das wollte Silke Jablonka auf jeden Fall vermeiden. Nach ihrem Doppel-Bachelor in den Studiengängen moderne Fremdsprachen, Kulturen und Wirtschaft sowie Fremdsprachendidaktik wollte sie sich im Gap-Year vergewissern, dass ihr Berufswunsch Lehrerin auch tatsächlich passt. Seit Januar lehrt sie Englisch an einer Schule in Aguablanca, dem größten Armutsviertel der kolumbianischen Millionenstadt Cali. „Ich unterrichte vom Kindergarten bis zur elften Klasse. Eine solche Unterrichtspraxis wäre in Deutschland ohne Lehramtsabschluss gar nicht möglich“, sagt die 25-Jährige. Keine Schulbücher, kein zuverlässiges Internet, riesige Klassen, ständig fallen Strom und Wasser aus – trotzdem oder gerade deshalb ist Jablonka von ihrem ebenfalls von Weltwärts organisierten Freiwilligendienst begeistert:

„Für mich als spätere Lehrerin ist er ohne Zweifel das Beste, was mir passieren konnte. In Deutschland wird es mir deshalb noch nicht als Klacks vorkommen, aber bestimmt leichter fallen, pubertierende Teenager in kleinen Klassen zu unterrichten, vor Gruppen zu stehen, Pläne zu ändern oder mich in ein Kollegium zu integrieren.“

Auch Sörge Drosten, geschäftsführender Direktor bei der Kienbaum-Personalberatung, spricht sich für das Gap-Year aus: „Dieser um sich greifende Optimierungswahn ist sowieso Quatsch. Ein Lebenslauf geht nicht davon kaputt, dass ein junger Mensch nach dem Bachelor versucht herauszufinden, was ihm Spaß macht. Einen kaputten Lebenslauf hat jemand, der im Berufsleben alle zwei Jahre die Stelle wechselt, weil er vorher versäumt hat, sich zu finden“, sagt . „Ein Gap-Year ist dazu da, Erfahrungen zu machen. Das können Praktika sein, aber für mich zählt auch ein Job als Surflehrer in den USA als wertvolle Erfahrung.“

Aber ist das auch eine mehrheitsfähige Meinung unter Deutschlands Personalverantwortlichen? Es scheint tatsächlich so: „Die Zeiten der Bummelei sind doch ohnehin vorbei, das macht ja niemand mehr. Wir haben es eher mit Menschen zu tun, die extrem karriereorientiert sind und von allem ein bisschen zu viel wollen“, sagt zum Beispiel der Personalchef von Adidas, Matthias Malessa. „Auf jeden Fall ist ein Gap-Year sinnvoll für die berufliche Orientierung, denn viele Bachelorstudenten haben ein Unternehmen noch nie von innen gesehen. Wir haben mit Bewerbern, die vor dem Master eine Auszeit genommen haben, um Praxiswissen zu gewinnen, ausschließlich gute Erfahrungen gemacht. Nicht, weil sie einen besonders tollen Lebenslauf haben, sondern weil sie sich im persönlichen Gespräch viel besser präsentieren können. Denn sie wissen genau, was zu ihnen passt und was sie wollen.“

Erfahrung macht interessant

Auch bei der Bayer AG herrscht Wohlwollen gegenüber Bewerbern, die ein Gap-Year im Lebenslauf aufführen. Anders als Kienbaum-Personalberater Drosten beurteilt Dirk Pfenning, bei Bayer verantwortlich für Personalrekrutierung, allerdings den Job als Surflehrer: „Sightseeing-Aufenthalte mit gelegentlichen Jobs sind wenig geeignet als Ergänzung oder Abrundung des angestrebten Berufseinstiegs. Aber generell ist ein Praxisjahr zwischen Bachelor und Master absolut sinnvoll.“

Das klingt, als seien die Auszeitnehmer in vielen Unternehmen mittlerweile nicht nur geduldet – sondern geradezu gesucht. HB

Frank Burger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false