zum Hauptinhalt

Zu große Ernte: Die Gurke als Sinnbild unserer Gesellschaft

Hartes Schicksal: Seit Jahren erntet die Gurke Kritik und Spott. Das sagt allerdings mehr über uns aus als über das Gemüse. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Maris Hubschmid

Früher ist der Mensch der Gurke auf Augenhöhe begegnet. Dank Kaiser Tiberius, wie wir bei Plinius dem Älteren nachlesen können: Der römische Herrscher liebte die Gewächse so sehr, dass er sie in hohen Beeten mit Rädern anbauen ließ, auf dass man sie in die Sonne fahre.

Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts waren Gurkenmasken das Schönheitsrezept schlechthin. Frauen vertrauten ihrer Kraft. „Eine Frau sollte immer eine Gurke im Kühlschrank haben“, hieß es auf der Ratgeberseite einer Illustrierten aus dem Jahr 1959 – oder war das die „Emma“ von ’79? Nageln Sie uns nicht fest.

„Gurke“ ist ein Schimpfwort

Später jedenfalls begann die Verunglimpfung. Die Gurke wurde mehr und mehr zum Schimpfwort. Für „Gurkentruppen“ im Fußball oder Parteienzwist, fürs „Rumgegurke“ auf der Autobahn. Die „Saure-Gurken-Zeit“ steht als Metapher für totale Ödnis. Seit 1980 wird der Negativpreis „Saure Gurke“ für besonders sexistische Fernsehbeiträge vergeben. Die Mäkelei gipfelte 1989 in der europäischen Verordnung Nr. 1677/88/EWG: Sie bestimmte, dass eine ordentliche Gurke auf zehn Zentimeter Länge nicht mehr als zehn Millimeter Krümmung haben darf. Obgleich inzwischen abgeschafft, ist sie den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union noch immer Maßstab. Schon gar in Deutschland, wo der aufrechte, weiße Spargel mit Krönchen als das Königsgemüse verehrt wird – krumme Gurken will kaum einer in seinem Gemüsefach haben. Sie werden aussortiert.

In der Ehec-Krise wurde die Gurke zu Unrecht beschuldigt

Der GAU aber kam mit der Ehec- Krise 2011. Von „Killer-Gurken“ und der „grünen Gefahr“ war die Rede. Da wurde die Gurke endgültig zum Schurken, zu Unrecht beschuldigt als Auslöser einer Epidemie – millionenfach in den Supermärkten verschmäht.

Und jetzt das: Wieder müssen tonnenweise Gurken verrotten. Bauern kippen sie als Abfall auf die Felder. Sie haben keine Verwendung dafür: Die Gurken, die eingelegt werden sollten, sind in dieser Saison so prächtig gediehen, dass weit mehr geerntet wurden, als verarbeitet werden können.

Die Berge sinnlos vernichteter Lebensmittel sind ein trauriger Anblick. Und einmal mehr ist die Gurke Sinnbild unserer Gesellschaft. Erst Opfer von Bürokratisierungswahn und Hygienehysterie, nun Mahnmal, das die Grenzen des Wachstums aufzeigt, dem alle nachjagen. Gurke zu Gurke, Staub zu Staub.

Kommet mit Einweckgläsern, rettet und genießt!

Man wünschte der Gurke, dass ein Raumschiff landete und sie mitnähme – in eine bessere Welt, wo die Gurke in ihrer Vielseitigkeit als das Geschenk anerkannt wird, das sie ist.

Kannst du das lesen, Käptn Gurk?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false