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Wertschätzung zeigt sich für Gewerkschaften nicht nur in der Höhe des Gehalts, sondern auch in der Art der Mitbestimmung.

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Zum Tag der Arbeit: Unternehmen brauchen Mitmacher statt Mitläufer

Corona hat die Gesellschaft polarisiert, der Krieg stärkt den Zusammenhalt. Wie stabil das ist, werden die künftigen Verteilungskonflikte zeigen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Alfons Frese

Der Tag der Arbeit ist ein Tag für Botschaften. In diesem Jahr besonders: Frieden, soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt fallen nicht vom Himmel, sondern bedürfen Engagement und Empathie. Die Bereitschaft zur Solidarität ist da, wie die Hilfen im Katastrophengebiet an der Ahr vergangenen Sommer und aktuell der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine zeigen.

Dabei hat sich solidarisches Verhalten aus Organisationen – Kirchen, Gewerkschaften, Parteien - in andere Formen und Formate der Zivilgesellschaft verlagert. Dennoch proklamiert der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB selbstbewusst: „Zukunft gestalten wir.“ Wirklich?

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Die Pandemiejahre waren auch für die Gewerkschaften schlimme Jahre, da der persönlichen Kontakt am Arbeitsplatz, in Versammlungen und bei Streikaktionen eine notwendige Bedingung ist für erfolgreiche Interessenvertretung gegenüber Arbeitgebern und Politik.

Das deutsche Sozialsystem, vor allem die Kurzarbeit, hat Firmen und Belegschaften über die Coronazeit gerettet. Die Stabilisierung der Realeinkommen war hingegen nicht möglich. Die wird den Gewerkschaften auch 2022 nicht gelingen, obgleich die IG Metall mit einer Acht-Prozent-Forderung für die Stahlindustrie eine Marke setzt. Es ist aber nur eine Forderung.

Mindestlohn als Symptom der Schwäche

Die deutlichste Erhöhung der Einkommen verdankt sich in diesem Jahr nicht der Stärke der Gewerkschaften, sondern ihrer Schwäche. Im Oktober steigt der Mindestlohn auf zwölf Euro. Davon profitieren Millionen Menschen, wie schon 2015 bei der Einführung.

Die Politik setzt Dumpinglöhnen eine Grenze, weil die Sozialpartner in weiten Teilen der Wirtschaft nicht in der Lage sind, Tarifverträge abzuschließen. Der Geburtsfehler des Mindestlohns – das mit 8,50 Euro niedrige Startniveau – wird acht Jahre später mit dem Sprung auf zwölf Euro korrigiert.

Auch an anderer Stelle sind die Gewerkschaften von der Politik abhängig: Mit verschiedenen Maßnahmen möchte die Ampel das Tarifsystem stärken und dazu die Mitbestimmung modernisieren. 50 Jahre nach der letzten umfassenden Reform des Betriebsverfassungsgesetz ist die Zeit reif. Digitalisierung, Demografie und Dekarbonisierung waren Anfang der 1970er Jahre ebenso wenig prägend für Wirtschaft und Gesellschaft wie die Globalisierung.

Vor allem in der Industrie, der Basis des Wohlstands hierzulande, bleibt kaum ein Arbeitsplatz, wie er ist. Das schreit geradezu nach kooperativer Gestaltung: Je gravierender der Wandel, desto wichtiger ist die Teilhabe der Betroffenen in der Transformation.

Nach acht Jahren an der DGB-Spitze geht Reiner Hoffmann jetzt in Rente. Nachfolgerin wird die SPD-Politikerin Yasmin Fahimi.
Nach acht Jahren an der DGB-Spitze geht Reiner Hoffmann jetzt in Rente. Nachfolgerin wird die SPD-Politikerin Yasmin Fahimi.

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Die Wissenschaft hat festgestellt, dass mitbestimmte Unternehmen erfolgreicher sind als Firmen ohne Betriebsrat. Das kann so sein. Unternehmen brauchen Mitmacher statt Mitläufer, und die Arbeitgeberverbände sollten ein Interesse haben an einer modernen Mitbestimmung. Der DGB wiederum darf sich aufgeschlossener zeigen bei Änderungen des Arbeitszeitgesetzes, um mobiles Arbeiten und Homeoffice und überhaupt individuelle Entscheidungen in der Erwerbsarbeit zu erleichtern.

Corona hat die Gesellschaft polarisiert, der Krieg stärkt den Zusammenhalt. Wie stabil das ist, werden die Verteilungskonflikte der kommenden Jahre zeigen. Nicht nur in Tarifverhandlungen, sondern auch in den Debatten über die Finanzierung der Steuer- und Sozialsysteme.

Zum ersten Mal eine Frau an der DGB-Spitze

Der DGB kann sich mit den Arbeitgebern solidarisieren, wenn es um die Verteidigung der 40-Prozent-Grenze bei der Sozialabgabenquote geht. Zusätzliche staatliche Ausgaben sind über Steuern zu finanzieren, nicht über den Arbeitsplatz. Dazu wird die FDP ihr Beharren auf der Schuldenbremse aufgeben müssen oder höhere Steuern für höhere Einkommen und Vermögen akzeptieren. Am besten beides.

Nächste Woche wird mit Yasmin Fahimi zum ersten Mal eine Frau als Vorsitzende des DGB gewählt. Sie kann die Strahlkraft des Dachverbands steigern und die Gewerkschaften als Mitgestalter eines guten Lebens profilieren. Und als Mitorganisatoren von Solidarität, ohne die das Land nicht funktioniert.

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