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Ein Schüler schlägt mit einer Bürste auf ein Papier, das auf einer Steintafel liegt.

© Kitty Kleist-Heinrich

200 Jahre Sammlung Griechischer Inschriften: Als Berlin lernte, die Antike zu lesen

200 Jahre im Zeichen der Bürste: Seit 1815 entziffern Gelehrte der Berliner Akademie griechische Inschriften. Ein Arbeitsbericht der Projektleiter.

„Männer Griechenlands, ich bringe euch ein unerwartetes Geschenk, wie ihr es zu erbitten nie gewagt hättet: Freiheit und Steuerfreiheit, die ihr nicht einmal in euren glücklichsten Zeiten hattet.“ Was Kaiser Nero den am 28. November des Jahres 67 n. Chr. in Korinth versammelten Massen auf Griechisch verkündete, werden sie mit Applaus und Jubelrufen begrüßt haben. Nero bietet ihnen ausgefeilteste Rhetorik: „O hätte ich nur dieses Geschenk zu einer Zeit gewähren können, da Griechenland in seiner Blüte stand! So tadle ich die Zeit, da sie die Größe meiner Gunst verringert hat.“ Am Ende rühmt sich der Kaiser: „Städten haben bisweilen auch andere Fürsten die Freiheit gewährt, Nero als einziger aber einer ganzen Provinz.“

Das Ziel lautete 1815, alle griechischen Inschriften zu sammeln

Woher wir diese einzige erhaltene Rede Neros kennen? Aus einer Inschrift, die jahrhundertelang, zusammen mit anderen Fragmenten, in einer kleinen Kirche in der mittelgriechischen Provinz eingemauert war und heute im Museum von Theben steht. Einige Fragmente stecken noch immer in der Wand des Kirchleins, andere sind verloren – aber nicht für die Wissenschaft.

Die Erklärung dafür geht auf den 24. April 1815 zurück: Einen Tag, bevor sich der Wiener Kongress über die Neuordnung Europas verständigen sollte, wurde der europäischen Wissenschaftslandschaft mit der Einrichtung der Inscriptiones Graecae (IG) ein vollkommen neues Element hinzugefügt. Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften hatte damit ein, wie sich zeigen sollte, paradigmatisches Vorhaben auf den Weg gebracht: eine Sammlung aller antiken Inschriften.

Nichts durfte wegen "Unbedeutendheit" ausgeschlossen bleiben

Den Antrag hatte der 30-jährige August Boeckh formuliert und mit einem Argument begründet, das zugleich die Aufgabe der Akademie neu bestimmte und als Gründungscharta geisteswissenschaftlicher Langzeitvorhaben gelten kann. Der „Hauptzweck“ einer Akademie müsse es sein, „Unternehmungen zu machen und Arbeiten zu liefern, welche kein Einzelner leisten kann: theils weil seine Kräfte denselben nicht gewachsen sind, theils weil ein Aufwand dazu erfordert wird, den kein Privatmann daran wagen wird“.

Die Sammlung der Inschriften, die bis heute an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften fortgeführt wird, sollte nicht nur griechische (mit denen man 1815 begann) und lateinische (die seit 1853 unter Leitung von Theodor Mommsen ediert wurden), sondern auch altitalische, etruskische, punische und palmyrenische Inschriften umfassen. Nichts durfte wegen „Unbedeutendheit des Inhalts“ ausgeschlossen bleiben. Die gesamte epigraphische Hinterlassenschaft war zu sammeln, durch Bereisung Griechenlands womöglich vermehrt um neue Inschriften, um die Antike in ihrer Gesamtheit zu erkennen: cognitio totius antiquitatis, lautete das Motto.

Die Abklatsch-Bürsten stellt heute nur noch ein Mann in Berlin her

Aus ähnlichen Motiven stiftete Friedrich Wilhelm III. das Alte Museum, wie es in der Inschrift am Lustgarten heißt, STVDIO ANTIQVITATIS OMNIGENAE, „dem Studium des Altertums in seiner ganzen Breite“. Im selben Jahr, 1828, erschien der erste Band von Boeckhs „Corpus inscriptionum Graecarum“ mit mehr als 2000 Inschriften. Inschriften waren nicht länger Gegenstand rein antiquarischen Interesses. Die Epigraphik war zur Wissenschaft geworden. Im Zunftwappen eines Epigraphikers müsste eine Bürste stehen: dicht und federnd, mit einem Griff aus Ulmenholz.

Dicht müssen die Borsten der Bürste stehen und federnd müssen sie sein - und der Griff aus Ulmenholz.
Dicht müssen die Borsten der Bürste stehen und federnd müssen sie sein - und der Griff aus Ulmenholz.

© Kitty Kleist-Heinrich

Ein einziger Berliner Bürstenmacher stellt sie noch her. Sie dient dazu, einen angefeuchteten Bogen leimlosen Papiers auf den Stein zu schlagen und auf diese Weise einen sogenannten Abklatsch herzustellen, den Abdruck einer Inschrift. Die Technik ist seit der Renaissance bekannt. Mit der Preußischen Lepsius-Expedition nach Ägypten 1842/45 fand das Verfahren Eingang in die Wissenschaft.

Die 30 000 Abklatsche vom Nil sowie weitere 20 000 Abklatsche lateinischer und fast 100 000 Abklatsche griechischer Inschriften werden in der Akademie aufbewahrt. Es ist die größte Sammlung weltweit – und ein unermesslicher Schatz. In zahllosen Fällen ist der Abklatsch das einzige Zeugnis, weil die Inschrift schon längst verwittert oder verloren gegangen ist. Auch heute muss jeder Bearbeiter eines Corpusbandes der Inscriptiones Graecae einen solchen Abklatsch anfertigen und zusammen mit dem Manuskript abgeben.

Inschriften sind der wesentliche Teil der antiken Schriftkultur

Wenn nicht Wind oder Regen verhindern, dass das Papier auf den Stein kommt, und wenn man beim Trocknen neugierige Katzen oder Touristen abgewehrt hat, ist das Ergebnis dauerhaft. In bester Beleuchtung, versehen mit Wörterbüchern und Datenbanken kann es dann ans Entziffern gehen.

Ein Abklatsch der Nero-Rede. Trotz "Rasur" sind entzifferbare Reste erkennbar.
Ein Abklatsch der Nero-Rede. Trotz "Rasur" sind entzifferbare Reste erkennbar.

© BBAW

Inschriften machen einen wesentlichen Teil der antiken Schriftkultur aus. Es gibt nichts, was nicht auf dauerhaftem Material, Stein oder Bronze, aufgezeichnet worden wäre: Gesetze und Erlasse ebenso wie private Notizen und Flüche gegen den Nachbarn, Ehren-, Weih- und Grabinschriften, Briefe von Kaisern und Königen, Verwaltungs- und Abrechnungsurkunden, all dies in großer Zahl und inhaltsschwer: Eine Platte feinen pentelischen Marmors kann schon einmal bis zu 25 000 Buchstaben enthalten.

"Aber mein Griechisch war besser", sagt ein widerlegter Kollege

Vieles schlummert unediert in den Museen und Grabungshäusern. Leicht ist die Frucht nicht zu pflücken: In der Regel sind die Stücke fragmentiert und verwittert, das Entziffern ist mühsam und setzt ein trainiertes Auge voraus, zumal die meisten antiken Schriften keine Worttrennung kannten: DASTDECHGEHT (Auflösung am Ende des Artikels). Hier hilft nur eine genaue Kenntnis der Parallelen, damit man nicht ins Fabulieren kommt. „Aber mein Griechisch war besser“, soll ein Kollege gesagt haben, als ihn der Fund des zunächst fehlenden Fragmentes widerlegte. Besser vielleicht – aber eben falsch.

Ein geisteswissenschaftliches Großprojekt mit ähnlich langer Geschichte wie die der Inscriptiones Graecae gibt es in Europa kein zweites Mal. Im Umfeld der aktuellen, auf rasche Ergebnisse hin orientierten Forschungsinteressen weiß die Akademie um ihre Verantwortung für geisteswissenschaftliche Langzeitvorhaben. Internationale Zusammenarbeit, Datenbanken, Digitalfotografie gehören längst zum Standard des „Berlin Corpus“, aber auch – mehr vielleicht als in anderen Fächern – das wissenschaftliche Handwerk: ein erfahrenes, trainiertes Auge, ein gutes optisches Gedächtnis, die Freude am Sammeln, die Bewältigung großer Textmassen, Beherrschung der antiken Sprachen, detaillierte Kenntnis der Realien.

Ein gigantisches Puzzle, das unser Geschichtsbild verändern könnte

Von der weitreichenden Vernetzung dieses epigraphischen Projekts zeugt das gigantische Puzzle, das der Pariser Altertumsforscher Denis Feissel bearbeitet: über 170 beschriftete Mauerblöcke, verbaut in dem jordanischen Wüstenschloss Hallabat. Die ersten Blöcke wurden 1905 dort entdeckt. Aufbauend auf einer hundertjährigen Forschung versucht Feissel, ein Edikt des byzantischen Kaisers Anastasios I. (491–518) wiederzugewinnen, das unser Geschichtsbild nachhaltig verändern könnte. Entscheidend sind hierbei jüngste Zufallsfunde in der Umgebung von Hallabat – und die Erkenntnis, dass ein längst bekanntes Fragment in der Mauer der Grabeskirche von Jerusalem – auf den ersten Blick nur einige Worte ohne Zusammenhang – in Wahrheit eine weitere Kopie desselben Ediktes enthält.

Detektivarbeit an der "rasierten" Nero-Inschrift

Von Neros Rede blieb nur das Exemplar aus dem Heiligtum des Apollon Ptoios in Böotien erhalten. Dessen Priester hatte die Chance ergriffen, seine Loyalität zum Kaiserhaus durch weitere Ehrungen zu beweisen. Das muss alles sehr schnell gegangen sein, denn ein halbes Jahr später beging Nero Selbstmord und wurde vom Senat zum Feind des Vaterlandes erklärt. Sein Nachfolger, der geizige Kaiser Vespasian („Geld stinkt nicht“), kassierte die Steuerbefreiung für Griechenland rasch.

Über den toten Nero verhängte man die damnatio memoriae. Binnen Jahresfrist wurde sein Name aus allen Inschriften ausgemeißelt, so auch in seiner Freiheitsrede von Korinth. Die Rasur freilich ist länger, als sie sein dürfte. Der Abklatsch in Berlin zeigt noch dünnste Spuren der einstigen Worte, das geübte Auge des Epigraphikers vermag zu sehen, dass nicht nur, wie zu erwarten, der Name getilgt war, sondern auch der Zusatz: „als einziger“.

Klaus Hallof ist Arbeitsstellenleiter der Inscriptiones Graecae der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und apl. Professor für griechische Epigraphik an der Humboldt-Universität. Bernd Seidensticker ist Sprecher des Grundlagenzentrums Alte Welt der BBAW sowie Professor (a.D.) für Klassische Philologie an der Freien Universität. Auflösung des Rätsels: D(a h)ast D(u P)ech geh(ab)t.

Klaus Hallof, Bernd Seidensticker

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